Schatten über Oxford
Entlassung aus dem Krankenhaus hatte Roz sich eine Zeit lang um sie gekümmert, doch nachdem Kate wieder einigermaßen auf den Beinen war, wurde das Reihenhaus in der Agatha Street zu klein für sie beide, und sie begannen, sich in die Haare zu geraten. Da hatte George vorgeschlagen, dass Kate zu ihm ziehen und Roz weiterhin in der Agatha Street wohnen sollte. Es war eine Vereinbarung, die sowohl Mutter als auch Tochter entgegenkam, weil sie so keine eigene Entscheidung zu treffen brauchten. Beide handelten gern aus dem Bauch heraus. Kate nannte es »Entscheidungsfreudigkeit«, während Roz aus der Weisheit ihres relativen Alters heraus wusste, dass diese Haltung ein Zeichen für unheilbare Unreife war.
Ja, George war wirklich etwas Besonderes. Er war die Sorte Mann, die Croissants anwärmte und sie am Sonntagmorgen zum Frühstück im Bett servierte. Und der haargenau die Aprikosenmarmelade besorgte, die zu den Croissants passte. Er brühte den richtigen Kaffee auf und erinnerte sich, aus welchem Becher Kate am liebsten trank und dass sie keinen Zucker, dafür aber einen Schuss entrahmte Milch dazu nahm. Mindestens ebenso aufmerksam zeigte er sich in anderen, womöglich noch lustvolleren Bereichen ihres Zusammenlebens. Kate gab sich einer kleinen Träumerei darüber hin …
Aber was hatte Roz gesagt? Dass sie sich am Riemen reißen musste, weil sonst selbst der reizende George sie eines Tages verlassen würde? Das konnte einfach nicht stimmen – oder doch? Schon bei dem Gedanken begannen ihre Hände zu zittern. Die Vorstellung davor erschien ihr noch bedrohlicher als ihre Angst vor großen Menschenansammlungen.
Wahrscheinlich war es vernünftig, dem Rat ihrer Mutter zu folgen. Kate hatte keine Lust, auf die harte Art herauszufinden, ob es stimmte. Sie versuchte ein Lächeln, doch es gefror zu einer Grimasse. Also versuchte sie es mit einer weniger schwierigen Übung, wie dem Straffen der Schultern und dem Aufrechthalten ihres Kopfes. Sie konzentrierte sich darauf, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken, was ihr nach einiger Zeit auch gelang.
George hielt sich in der oberen Etage des Hauses auf und war mit einer Aufgabe beschäftigt, die er notwendige Instandhaltungsarbeiten nannte. Kate hatte diese Form von Renovierung in ihrem eigenen Haus in der Agatha Street auf das Aussuchen neuer Farben für den nächsten Anstrich beschränkt, doch George glaubte, dass grundlegendere Veränderungen nötig waren.
George hatte das Haus in der Cavendish Road von seiner Tante Sadie geerbt. Als sie starb, organisierte er, dankbar für die Zuwendung, ein opulentes Begräbnis mit allem, was dazugehört, und teilte die Immobilie anschließend in zwei separate Wohnungen auf. Er hätte sie ohne weiteres auch in Einzelzimmer aufteilen und mehr Miete einstreichen können, doch ihm gefiel die Vorstellung, einen Standort zu besitzen, an den er nach seinen Ausflügen in die weite Welt jederzeit zurückkehren konnte. Außerdem hatte er keine Lust, jeden Monat einem halben Dutzend Studenten wegen der Miete hinterherzulaufen.
Die untere Wohnung bestand aus dem Erdgeschoss und der ersten Etage, die zweite Wohnung lag im Dachgeschoss und verfügte über ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein kleines Bad und eine Küchenzeile – gerade richtig also für ein junges Paar oder eine Einzelperson. In früheren Jahren hatte George diese Wohnung selbst genutzt, doch mit zunehmender Sesshaftigkeit und dem damit verbundenen Mehr an Besitz war er in die untere Wohnung gezogen und hatte das Dachgeschoss an ruhige Mitbewohner vermietet. (»Als ich jünger war, machte mir Lärm kaum etwas aus, weil ich mich ohnehin selten zu Hause aufhielt, aber inzwischen lege ich Wert auf eine gewisse Ruhe und achte bei Bewerbern grundsätzlich auf die Füße«, erzählte er Kate nur halb im Scherz. »Mehr als Schuhgröße 42 wird nicht genommen, ganz gleich, wie nett sie sonst sein mögen.«)
Kate fand es angenehm, zwei Etagen zur Verfügung zu haben, und hatte das zweite Schlafzimmer sofort als ihr Arbeitszimmer annektiert. Nicht, dass sie bisher viel Gebrauch davon gemacht hätte, doch zumindest hatte sie manchmal an dem massiven Holztisch gesessen und den jungfräulichen Bildschirm ihres Laptops angestarrt. Anschließend hatte sie sich meist eine Zeit lang auf dem schmalen Bett ausgestreckt, die ebenfalls jungfräuliche Zimmerdecke betrachtet, war irgendwann wieder aufgestanden, in die Küche gegangen und hatte sich den nächsten Becher Kaffee
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