Schatten über Oxford
hier eine Menge Lokalkolorit finden. Hintergrundmaterial.
George hatte eine große Taschenlampe mitgebracht. Kate schaltete sie ein und begann die dunklen Ecken außerhalb des Lichtkegels zu inspizieren.
»Ich habe eine Garderobe gefunden!«, rief sie. »Warum holen wir sie nicht nach unten?«
»Weil sie viel zu groß und entsetzlich hässlich ist«, sagte George. »Was hast du an den Haken hinter der Küchentür auszusetzen?«
»Schon gut. Ich nehme an, du hast auch etwas dagegen, dass ich den Messingeimer hier für unsere Regenschirme benutze, oder?«
»Welche Regenschirme? Ich habe dich noch nie mit Schirm gesehen.«
»Wo du Recht hast, hast du Recht! Aber er würde sich auch als Papierkorb eignen.«
»Aber höchstens in deinem Arbeitszimmer«, erklärte George mit fester Stimme. »Ich habe nicht vor, mein Wohnzimmer mit altem Zeug vollzustellen.«
»Unser Wohnzimmer«, korrigierte Kate ihn leise. »In meinem Arbeitszimmer nähme er sich sicher hübsch aus.« Sie stellte den Eimer neben die Luke. »Hier vergesse ich ihn bestimmt nicht.«
»Du wirst darüberstolpern«, warnte George.
Doch Kate hörte nicht zu. Fasziniert stöberte sie in den staubigen Erinnerungen herum. »Sieh mal – Vorfahren.«
»Tote oder lebendige?«
»Porträts. Bestimmt gehören die Gesichter zu deiner Familie.«
»Zeig mal her!« Er kam zu ihr und blieb gebückt stehen, um sich nicht den Kopf an den Deckenbalken anzuschlagen. »Stimmt. Ich finde sie toll. Als ich klein war, hingen sie unten. Vielleicht sollten wir sie ins Esszimmer hängen«, schlug er vor.
»Falls wir je ein Esszimmer bekommen«, sagte Kate. »Aber Schönheiten sind sie nicht gerade, oder?«
»Wieso? Immerhin sind sie allesamt echte, aufrechte Dolbys.«
»Wer ist denn das hier? Die Dame sieht aus, als hätte sie gerade eine Flasche Essig verschluckt.«
»Sie war die erste Besitzerin dieses Hauses und meine Großtante. Vielleicht auch Urgroßtante. Jedenfalls hieß sie Margaret Marlyn.«
»Glaubst du ernsthaft, sie würde uns im Esszimmer bei der Verdauung helfen?«
»Nun, sie ist doch buchstäblich ein Bild von einer Frau«, George grinste.
»Weißt du auch, wer die anderen sind?«
»Ich kenne zwar nicht alle, aber ich könnte es sicher herausfinden. Auf jeden Fall handelt es sich um irgendwelche Großonkel und Vettern zweiten Grades.«
Sicher waren sie alle mindestens Ratsherren, dachte Kate. Nein, im Esszimmer möchte ich sie nicht haben. Sie drehte die Bilder mit dem Gesicht zur Wand und ließ sie in der düsteren Ecke stehen, in der sie sie gefunden hatte.
George ging zurück an seinen Platz unter der Lampe.
»Sieh einmal an! Das ist aber ein hübscher Teppich!«, rief Kate.
»Eigentlich ist es nur ein Läufer, und außerdem ist er ausgefranst«, gab George zurück.
»Die Farbe ist toll. Können wir ihn nicht reparieren lassen?«
»Sicher. Irgendwann einmal.«
Kate rollte den Teppich zusammen und verstaute ihn wieder an seinem Platz.
»Hier liegt ein Heft«, sagte sie und hob es auf. »Ein altmodisches Format. Sieht fast aus wie ein Schulheft. Leider fehlt der Einband.«
»Stimmt, ja! Beinahe hätte ich vergessen, dass du eine Schwäche für Schreibhefte hast.«
»Das war einmal. Inzwischen interessieren mich solche Dinge nicht mehr.«
Dieses »inzwischen« hing im Raum wie eine scharfe Handgranate.
»Quatsch. Natürlich interessierst du dich dafür. Ich sehe doch, dass du geradezu darauf brennst, das Heft durchzulesen.« George sprach mit sanfter Stimme. Anscheinend hatte er sich daran gewöhnt, Kate nicht aufregen zu wollen.
»Zeig mal her.« Er nahm ihr das Heft aus der Hand und blätterte es durch. »Nun, das hier scheint allerdings wirklich nicht besonders interessant zu sein.«
»Wieso? Ist es eins von deinen?«
»Nein, es ist viel älter. Es war hier in diesem Karton, den ich eigentlich gerade entsorgen wollte.«
»Ich würde es mir gerne vorher noch anschauen«, meinte Kate und legte das Heft zur Seite. George ließ sie gewähren.
»Ich nehme an, du möchtest auch die Fotos sehen, ehe ich sie wegwerfe, nicht wahr?«
»Auf jeden Fall!«
George reichte ihr einen Stapel Schwarz-Weiß-Bilder.
»Der Fotograf war nicht gerade ein As«, erklärte Kate, nachdem sie die ersten Fotos angesehen hatte. »Trotzdem: Warum hat sie sie nicht in ein Album eingeklebt? Sie sind schon ganz verknickt.«
Kate begann, die Fotos zu glätten. »Wer ist das überhaupt?«
»Diese da, die so Furcht einflößend dreinblickt und vor der alle
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