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Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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wollte.
    Zu beiden Seiten von George stapelten sich stabile Kartons mit Deckel. Die Etiketten hatten sich teilweise gelöst und waren kaum noch lesbar. Auf dem Boden vor ihm lag ein unordentlicher Haufen aus Schulheften und Fotos. Eines dieser Fotos streckte er Kate entgegen, damit sie es in Augenschein nehmen konnte.
    Kate balancierte auf der obersten Sprosse der Leiter. Sie zögerte kurz, denn sie fühlte sich eher als Zuschauer denn als Schauspieler, der mit auf die Bühne gehörte. George schien nur noch darauf zu warten, dass sich der Vorhang hob. Kate hatte das Gefühl, als sei der Dramatiker noch irgendwo anwesend. Vielleicht war noch gar nicht entschieden, um was es sich bei diesem Theaterstück überhaupt handeln sollte. Tragödie? Komödie? Posse? Erst in den nächsten beiden Sekunden würde sich herausstellen, was daraus wurde.
    George wandte sich Kate zu. »Kommst du?«, fragte er. Trotz der staubigen Luft hallte seine Stimme von den kahlen Wänden wider und klang irgendwie tiefer als sonst. Sie hört sich älter an, dachte Kate. Die Lampe warf harte Schatten auf Georges untere Gesichtshälfte. Die freundlichen Lachfältchen schienen verschwunden; sein Gesicht wirkte plötzlich entschlossen und kompromisslos. Erstaunt registrierte Kate, dass sie ihn beinahe noch attraktiver fand als sonst.
    Noch ein Schritt, und sie stünde auf der Bühne – die Aufführung könnte beginnen. Sie würde von der Zuschauerin in die Rolle der Schauspielerin wechseln, von der Passivität zur Aktivität. Du liebe Zeit, jetzt ging ihre Fantasie aber wirklich mit ihr durch! Das alles spielte sich doch nur in ihrem Kopf ab! Kate trat von der obersten Sprosse in den Speicherraum.
    »Was machst du da? Willst du den Speicher in ein Apartment umfunktionieren? Das wäre sicher kein Problem!«
    »Keine schlechte Idee«, sagte George nachdenklich. »Schau mal. Ich bin gerade dabei, in diesen Kartons zu stöbern. Als Tante Sadie starb, habe ich ihre Kleider und persönlichen Dinge zu Oxfam gegeben. Mit den Möbeln habe ich die beiden Wohnungen ausgestattet, die Bücher behalten und alles andere für wohltätige Zwecke gestiftet. Allerdings war da noch die übliche Sammlung persönlicher Papiere und Andenken, die ich auf keinen Fall aus der Hand geben wollte, für die ich mich aber damals auch nicht besonders interessierte. Wir Dolbys hängen an Familiendingen, auch wenn sie vielleicht belanglos sind. Also räumte ich die Papiere in Kartons und schaffte sie auf den Dachboden. Ehrlich gesagt hatte ich sie inzwischen völlig vergessen, aber ich denke, ich sollte mich allmählich darum kümmern. Wenn ich nämlich weiterhin jede Kleinigkeit horte, muss ich demnächst ein Lagerhaus mieten.«
    Kate kniete sich neben ihn auf den Fußboden. Im trüben Licht der kümmerlichen 40-Watt-Birne sah sie, dass er zwei oder drei Kartons geöffnet und ihren Inhalt durchwühlt hatte. Kate hob einen Brief auf. Das Papier war grau geworden und die Tinte verblichen.
    »›Liebe Sadie‹«, las sie vor. »›Ich verbringe eine herrliche Zeit hier in Bournemouth. Häufig gehe ich auf den Wanderwegen spazieren und stille meinen Appetit mit reifen Brombeeren, die ich direkt an den Hecken pflücke.‹ Gähn!«, kommentierte sie unhöflich. »Warum verwahrt man so etwas? Ich nehme an, es handelt sich um Briefe an deine Tante Sadie.«
    »Du speicherst deine E-Mails doch auch, oder etwa nicht?«, gab George höchst vernünftig zurück. »Das hier ist genau das Gleiche. Tante Sadie verwahrte die Briefe, die sie von ihren Freunden bekam. Weil sie ihr wichtig waren.«
    »Genau wie die Postkarten. Ganz zu schweigen von den Geburtstagskarten. Sogar Theaterprogramme sind hier«, erwiderte Kate, die sich bereits durch den nächsten Stapel wühlte. Wahrscheinlich hatte die Dame auch ihre Busfahrscheine verwahrt, dachte sie, schwieg jedoch gnädig.
    »Gib her.« George streckte die Hand aus. »Ich denke, ich werde die Sachen bei Gelegenheit verbrennen.«
    Kate allerdings argwöhnte, dass er die Briefe wieder in den Kartons verstauen würde, sobald sie ihm den Rücken kehrte. Er würde das Zeug horten, bis sich der Fußboden durchbog.
    »Ich glaube, ich könnte hier oben viele Stunden verbringen und mir die alten Sachen anschauen«, erklärte sie. Tatsächlich konnte sie sich vorstellen, dass sich auf diesem Speicher die Handlungsentwürfe für mindestens ein halbes Dutzend Romane verbargen. Nun gut, das mochte vielleicht ein wenig übertrieben sein, aber bestimmt konnte man

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