Schatten über Oxford
kleinen Jungs zitterten, ist meine Großtante Elinor Marlyn. Zumindest habe ich sie immer für meine Großtante gehalten. Sie war Tante Sadies Tante mütterlicherseits. Macht sie das eigentlich zu meiner Großtante? Ich kenne mich leider nicht sehr gut aus mit diesen verwandtschaftlichen Beziehungen.«
»Möglich wäre es«, erwiderte Kate ein wenig unsicher. Sie selbst besaß weder Onkel noch Tanten und hatte sich noch nie darum bemüht, familiäre Bande jedweder Art präzise zu benennen.
Die Frau auf dem Foto hatte geradewegs in die Kameralinse gestarrt, und Kate fragte sich, wer kühn genug gewesen war, überhaupt ein Objektiv auf sie zu richten. Ihr Haar war straff zurückgekämmt und zu einem Knoten aufgesteckt. Ein paar Strähnen waren der strengen Behandlung allerdings entkommen und sorgten für einen etwas sanfteren Gesamteindruck. Das Haar sah aus, als wäre es in weichen Wellen auf die Schultern gefallen, wenn Tante Elinor ihm je Gelegenheit dazu gegeben hätte. Tiefe Falten zwischen Nasenflügel und Mundwinkel sorgten dafür, dass sie äußerst streng wirkte. Möglicherweise war sie unzufrieden mit allem, was sie umgab, dachte Kate. Bestimmt hat sie ihrer gesamten Umgebung das Leben zur Hölle gemacht.
»In der Familie erzählt man sich, dass sie wunderschön lächeln konnte. Angeblich veränderte sich in solchen Momenten ihr ganzes Gesicht und die Leute überschlugen sich fast, ihr helfen zu dürfen«, berichtete George.
»Die potentiellen Helfer waren sicher männlichen Geschlechts«, Kate grinste.
»Das nehme ich auch an.«
Kate begann, in dem alten Schulheft zu blättern. Der Besitzer war im Rechnen noch schlechter gewesen als sie selbst. George und sein Bruder Sam schienen in mathematischen Dingen ganz gewitzt zu sein, daher konnte das Heft keinem der beiden gehört haben. Vielleicht hatte ein Kind es auf Besuch im Haus vergessen. Ohne den Einband war Kate auf Vermutungen angewiesen.
»Möchtest du noch mehr von diesem Müll mitnehmen?«, fragte George.
»Ich glaube nicht. Warum bist du überhaupt auf den Speicher gestiegen?«
»Ich habe meine Werkzeugkiste gesucht.«
»Auf den ersten Blick sehe ich keine. Aber vielleicht ist sie in irgendeiner Ecke versteckt.«
»Offensichtlich nicht«, sagte George und blickte sich um. Ringsumher stand nichts als alter, nutzloser Krempel. »Ich sollte lieber wieder hinuntergehen und die Reparaturen Leuten überlassen, die etwas davon verstehen.« Er stand auf und beugte den Kopf, um nicht anzustoßen. »Kommst du mit?«
»Ja.« Kate nickte und warf das Schulheft in einen Karton. Ehe sie George die Leiter hinunterfolgte, warf sie einen letzten, bedauernden Blick auf das Gerümpel. Irgendwann würde sie diesen Speicher auf eigene Faust erkunden. Alles, was sie brauchte, war ein Tag Zeit, vernünftiges Licht und ein Staubwedel.
Sie nahm den Messingeimer mit für ihr Arbeitszimmer. Bei Tageslicht besehen stellte sich heraus, dass er dringend gereinigt werden müsste. Doch das verschob sie auf später.
2
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich«, sagte Roz.
Ihre täglichen Anrufe waren längst zur Gewohnheit geworden. Obwohl weder Kate noch Roz es zugeben mochten, freuten sich beide an ihrem regelmäßigen Austausch von Klatsch und Tratsch.
»Fang mit der guten Nachricht an«, meinte Kate. »Danach kannst du ganz vorsichtig zur schlechten überleiten oder sie mir am besten gleich ganz unterschlagen.«
»Die gute Nachricht ist, dass deine lautstarken Nachbarn ausgezogen sind.«
»Trace und Jace? Harley und Shayla?«
»Samt Baby Krötengesicht und Köter Dave. Alle weg!«
»Das kommt aber plötzlich! Was ist passiert?«
»Tracey hat Jace samt seiner grausigen Musik an die frische Luft gesetzt und ist zu Ken zurückgekehrt. Zu meinem Ken hat sie gesagt.«
»Das ist ihr Ehemann. Der Vater sämtlicher Kinder.«
»Jedenfalls scheint er in der Zwischenzeit ganz gut ohne sie zurechtgekommen zu sein. Er hat eine Menge Geld gemacht und es in eine Immobilie in einem dieser Orte mit ›K‹ investiert, die jeder kennt, aber niemand je gesehen hat. Kennington oder Kiddlington oder so ähnlich.«
»Harley wird mir fehlen«, sagte Kate. »Und wer kümmert sich jetzt darum, dass er seine Hausaufgaben macht?«
»Er ist in einem Alter, in dem er sich ein zielstrebiges, junges Mädchen suchen kann, das ihn durch die Examina boxt und ihn dazu bringt, etwas aus sich zu machen«, behauptete Roz fröhlich. »Du hast ihn auf den richtigen Weg
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