Schatten über Oxford
und über die Freiheit, durch die Felder streifen zu können. Wir hatten nur den halben Tag lang Unterricht, weil wir die Schule mit den einheimischen Kindern teilen mussten. Den Rest der Zeit liefen wir frei herum. Um zwanzig nach sieben kam jemand von der St. Marks Kirche auf die Straße und läutete eine Glocke – wissen Sie, so ein altmodisches Ding mit Holzgriff und Metallklöppel. Wenn die Glocke erklang, war es Zeit, in unsere Unterkünfte zurückzukehren. Wir drei Mädchen mussten zwar unsere Arbeit im Haus verrichten, aber auch wir hatten Freizeit. Wenn ich es mir genau überlege, war es eigentlich gar nicht so schlimm.«
Nachdem Brenda zu dieser Einsicht gekommen war, wirkte sie plötzlich heiterer.
»Eigentlich glaube ich nicht, dass Miss Marlyn wirklich böse war«, fuhr sie fort. »Sie war nicht verheiratet und hatte daher wenig mit Kindern zu tun. Bestimmt ist es ihr nicht leichtgefallen, zwei völlig Fremde in ihrem Haus aufzunehmen. Allerdings erinnere ich mich, dass sie furchtbar streng war. Einmal habe ich mitbekommen, wie sie die beiden ausgeschimpft hat, und zwar mit einer Stimme, mit der man Stahl hätte schneiden können.«
Sie stutzte und blickte etwas verwundert drein, als wäre sie eine so ausdrucksstarke Sprache nicht von sich gewöhnt.
»Natürlich waren Gerüchte über sie im Umlauf«, fügte sie nachdenklich hinzu.
»Ach wirklich?«
»Darüber sollte ich vielleicht lieber nicht reden. Es wäre ohnehin nur Klatsch.«
»Ein bisschen Klatsch macht doch jedem Spaß«, erklärte Kate.
»Es wäre aber nicht recht.«
Kate gab es, zumindest für den Augenblick, auf. »Erinnern Sie sich auch an das jüngere Mädchen? An Susan?«
»Sie war ein kleines, blasses Ding, ziemlich unscheinbar. Allerdings schien sie glücklicher zu sein als ihr Bruder. Chris hat immer mit Argusaugen über seine kleine Schwester gewacht, das weiß ich noch genau. Außerdem war er der Typ, der sich ständig Sorgen macht. Ich habe die beiden allerdings nur ein oder zwei Halbjahre miterlebt, ehe ich in die weiterführende Schule wechselte. Ich vermute, dass ich mich nur wegen des Unfalls noch an sie erinnere.«
»Chris ist überfahren worden.« Kate nickte.
»Richtig. So etwas kam damals häufig vor. Auf den Straßen gab es viel Verkehr, und keiner der Fahrer achtete auch nur im Mindesten auf Kinder. Meist waren es Konvois. Manchmal hatte es den Anschein, als ob ganz Oxfordshire aus einem einzigen, riesengroßen Konvoi bestünde, der Tag und Nacht durch die Straßen rumpelte. Und das auch noch viel zu schnell. Kinder hatten da nicht die geringste Chance.«
»Aber Chris Barnes wurde nicht von einem Militärfahrzeug überfahren, nicht wahr?«
»Nein, es war ein Lieferwagen. Der junge Watts hat ihn gefahren, aber der war immer schon ein Taugenichts.«
»Kannten Sie ihn?«
»Oh ja! Aber ich durfte nicht mit ihm sprechen. Jeder hier in der Umgebung kannte Danny. Die Leute sagten über ihn, er wäre ein kleiner Schieber.«
Noch mehr Klatsch, dachte Kate. Wie viel davon durfte sie glauben? Wahrscheinlich nicht allzu viel.
»Was ist aus Susan geworden? Nach Chris’ Unfall, meine ich?«
»Warum interessieren Sie sich so sehr für die Barnes-Kinder?«
»Ich habe dieser Tage auf dem Friedhof von St. Marks einen Grabstein mit Christophers Namen und seinem Alter gefunden. Seither beschäftigt mich diese Geschichte. Ich möchte gern mehr darüber erfahren.«
»Sie sollten aber in Ihrem Buch nichts über diese Kinder schreiben«, sagte Brenda. »Sie wollen doch sicher mit so traurigen Dingen Ihre Geschichte nicht verderben.«
»Kannten Sie Susan? Ist sie vielleicht zu ihrer Mutter zurückgekehrt?«
»Das habe ich vergessen. Es muss einen Grund dafür gegeben haben, dass sie noch hierblieb, nachdem die meisten anderen längst nach Hause gefahren waren. War die Mutter krank? Oder der Vater vermisst? Ich weiß es nicht mehr, aber irgendetwas in dieser Art muss es gewesen sein.«
»Das heißt, die Kinder hatten keine Eltern, die für sie da waren.«
»Schon möglich, aber es gab da jemanden. Ein Mann, der als kriegsversehrt aus der Armee ausgemustert worden war. Aber lassen wir die Sache. Das alles ist lange her.«
Brenda Boston stand auf, strich ihren blauen Rock über den Hüften glatt, um die Sitzfalten zu entfernen, räumte die Kaffeetassen ab und ging mit ihnen bis zur Tür.
»Leider habe ich jetzt zu tun«, sagte sie über die Schulter hinweg.
»Dann sollte ich wohl besser gehen«, gab Kate gehorsam
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