Schatten über Oxford
zurück.
Brenda kam ins Wohnzimmer zurück.
»Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben«, sagte Kate.
»Heutzutage würde man mir wahrscheinlich nahelegen, über alles zu sprechen. Über die schrecklichen Dinge, die in unserer ersten Unterkunft geschehen sind. Ich habe Ihnen noch nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was wirklich passiert ist. Aber wissen Sie, ich gehöre einer anderen Generation an. Wir haben Unannehmlichkeiten einfach ertragen, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Wir warteten darauf, dass sie vorübergingen, um dann unser Leben weiterzuleben. Und ehrlich gesagt bin ich mir gar nicht so sicher, ob Ihre Generation mit ihrer Manie, über alles reden zu müssen, wirklich richtigliegt. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nie wieder davon zu sprechen.«
Kate wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und schwieg.
»Ich merke, wie neugierig Sie auf Chris Barnes und seine Schwester sind. Vielleicht könnte ihre Geschichte tatsächlich Romanstoff liefern, vielleicht gibt es ja sogar ein Geheimnis. Doch es dürfte weder für Sie noch für die beiden Kinder gut sein, wenn Sie anfangen, darin herumzustochern. Lassen Sie die Finger davon. Lassen Sie Chris auf dem Friedhof unter seinem kleinen Grabstein ruhen, auf dem nur sein Name und das Alter steht. Das hat er verdient, finden Sie nicht?«
Erst nachdem Kate Brenda Bostons Haus verlassen hatte und noch einen Augenblick vor der Haustür verharrte, dachte sie: Nein, das finde ich nicht. Christopher Barnes hätte es verdient zu leben, doch dieses Leben hat man ihm genommen. Und ich glaube auch nicht, dass ich bereits die ganze Wahrheit über sein Schicksal kenne.
Brenda hatte Naomi King erwähnt. Auch Violet Watts hatte von ihr gesprochen. Als zuständige Sachbearbeiterin für die Unterbringung der Kinder hatte sie sicher das Recht gehabt, in den Häusern ein und aus zu gehen, und kannte die jeweiligen Bedingungen; auch dürfte sie mit den Kindern gesprochen haben, um festzustellen, ob sie sich wohl fühlten. Zumindest hätte ich das getan, wäre ich mit einer solchen Aufgabe betraut gewesen, dachte Kate.
Allerdings konnte sie sich Naomi King mit ihrer dicken Brille und dem alten Tweedrock beim besten Willen nicht beim Eislauf im Mondschein auf der zugefrorenen Port Meadow vorstellen, schon gar nicht in Gesellschaft eines feschen Hauptmanns der Garde. Nein, Naomi King war sicher nicht die romantische Heldin, die Estelle sich vorstellte.
7
»Hallo? Sind Sie das, Elspeth?«
Nein, es war der Anrufbeantworter. Und sosehr Kate es auch schätzte, selbst ein solches Gerät zu benutzen, sosehr hasste sie es, von einer Maschine begrüßt zu werden, wenn sie irgendwo anrief. Irgendwie hatte sie immer den Verdacht, dass doch jemand zu Hause war und dem gestelzten Zeug lauschte, das man von sich gab – jemand, der beschlossen hatte, nicht mit Kate Ivory sprechen zu wollen. Wann mochte Elspeth ihren Anrufbeantworter benutzen? Hörte sie regelmäßig ihre Nachrichten ab und kümmerte sich sofort darum, oder ging sie sogleich zur Tagesordnung über und vergaß alles? Natürlich traute man einer Pfarrerin nur das Allerbeste zu, doch man konnte nie wissen. Trotzdem hinterließ Kate ihre Nachricht nach dem Signalton.
»Kennen Sie vielleicht eine Frau namens Naomi King? Sie war während des Krieges zuständig für die Unterbringung der evakuierten Kinder und scheint in der Gegend geblieben zu sein. Könnte natürlich sein, dass sie geheiratet und einen anderen Namen angenommen hat – dann hieße sie jetzt Naomi Irgendwie. Angeblich trug sie eine dicke Brille und noch dickere Tweedröcke, was sich im Lauf der Jahre vermutlich nicht verändert hat, selbst wenn der Name nicht mehr derselbe ist. Bitte rufen Sie mich doch zurück, falls Sie mir helfen können. Übrigens auch, wenn Sie es nicht können – ich möchte immer gern wissen, ob meine Nachricht angekommen ist.«
Zunächst hatte Kate es mit dem Telefonbuch probiert, doch dort gab es so viele Kings – sogar mit der Initiale N., –, dass Kate keine Lust gehabt hatte, alle anzurufen und nachzufragen, ob sie diejenige waren, nach der sie suchte. Jetzt würde sie erst einmal Elspeths Rückruf abwarten.
Im Haus war es still. George würde erst am frühen Abend zurückkommen. Der ideale Zeitpunkt also, um sich mit Christophers Schätzen zu beschäftigen. Kate ging in ihr Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter sich und breitete Schulhefte und Zeichnungen auf
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