Schatten über Oxford
Hals verriet, dass er wahrscheinlich deutlich jünger als dreißig gewesen sein musste, als das Bild aufgenommen wurde. Es war schwierig festzustellen, welche Persönlichkeit sich hinter dem Lächeln verbarg. Die Uniform nahm dem Mann jegliche Individualität; seine Jugend und die Technik des Fotografen ließen ihn wie jeden beliebigen jungen Soldaten aussehen, der in den Krieg zog.
Das letzte Foto zeigte eine Dreiergruppe. Zwei Männer, eine Frau. Das Bild war ziemlich verwackelt, und so waren die Gesichter kaum zu erkennen. Kate drehte das Foto um. Mama , Papa und Onkel Alan ,las sie auf der Rückseite. Die beiden Männer sahen sich so ähnlich, dass es sich wahrscheinlich um Brüder handelte. Beide waren blonder als die Frau, und beide wiesen die gleiche längliche Kopfform mit abstehenden Ohren auf. Ihre Haare glänzten vor Pomade und klebten an ihren Köpfen. Einer der Brüder wirkte ein wenig älter als der andere. Das muss Onkel Alan sein, dachte Kate. Alan Barnes. Ob er noch lebte? Und wenn ja, würde sie ihn finden? Trotz des gängigen Namens? Bestimmt gab es in jeder englischen Stadt mindestens einen Alan Barnes.
Kate legte die Fotos so hin, dass sie sie betrachten konnte, und wandte sich dem Schulheft zu. Beim Durchblättern entdeckte sie, dass der Junge seine Adresse hineingeschrieben hatte.
Christopher Douglas Barnes , 26 Reckitt Street , Peckham , London SE15 , England , Europa , Welt , Universum .
Oh ja, sie erinnerte sich. Als Kind hatte sie ihre Adresse fast genauso geschrieben. Erst viele Jahre später erfuhr Kate, dass eine solchen Schreibweise geradezu beispielhaft demonstrierte, wie Kinder ihre Umgebung in Kategorien einordnen. Vielleicht hätte ihr junger Freund Harley aus der Agatha Street ihr erklärt, dass genau das ein Venn-Diagramm war. Schade, dass Harley nicht mehr ihr Nachbar war. Er hätte ihr bestimmt erklären können, wie sich ein zehnjähriger Junge fern von seinen Eltern und seinem Zuhause fühlte. Außerdem hätte er dafür gesorgt, dass sie nicht zu rührselig wurde.
Kate fand einige von Christopher geschriebene Briefe. Warum hatte er sie nicht abgeschickt? Sie las die saubere rote Schrift. Auch hier hatte Christopher seinen haltbaren Stift benutzt.
Liebe Mama,
hoffentlich geht es Dir gut. Susie und ich sind froh, dass wir in High Corner wohnen dürfen. Wir gehen ganz in der Nähe zur Schule. Auf dem Schulweg halte ich Susies Hand, wie Du gesagt hast …
Langweilig. Pflichtbewusst.
Kate stöberte noch einige andere Briefe durch. Immer das Gleiche. Es sah aus, als hätte man in der Schule Musterbriefe verteilt, die die Kinder nur noch abschreiben mussten. Leere, hohle Phrasen, die beschwichtigend wirken sollten.
Die einzig ehrliche Passage fand Kate im letzten Abschnitt eines Briefes.
Ist in der Reckitt Street wirklich alles in Ordnung? Wir haben gehört, dass in unserem Teil von London V-Waffen eingesetzt worden sind. Ich habe dauernd Angst, dass unser Haus getroffen wird. Ist ganz bestimmt alles in Ordnung? Du könntest doch auch hier bei uns wohnen. Hier ist es sicher, und es gibt eine Menge Zimmer.
Und dann, als wäre ihm der Einfall gerade erst gekommen:
Für Onkel Alan ist natürlich auch genügend Platz.
Das Schulheft erwies sich als eine Art Tagebuch, in dem sich zwischen den Texten weitere Zeichnungen fanden. Kate entdeckte eine Darstellung von Miss Arbuthnot, die der Junge als gestrenge Lehrerin karikiert hatte. Schließlich klappte sie das Heft zu und verstaute es mit den Zeichnungen ordentlich in ihrer Schreibtischschublade. Sie hatte gehofft, mehr über Christopher Barnes zu erfahren, doch viel Interessantes war nicht dabei gewesen. Tatsächlich begann sie, sich einzugestehen, dass Chris wahrscheinlich ebenso langweilig war wie andere Jungen seines Alters. Und doch steckte wahrscheinlich mehr hinter der Geschichte, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
Sie wollte gerade die Schublade schließen, als ihr etwas einfiel. Sie sollte sich die Londoner Adresse notieren! Wer weiß wozu es eines Tages gut war.
Ob sich in der Reckitt Street 26 noch jemand an Christopher erinnerte? Möglicherweise lebten noch Familienmitglieder dort. Der Vater vielleicht. Oder Onkel Alan. Noch einmal betrachtete Kate das Foto der Mutter. Nein, Mrs Barnes dürfte nicht mehr lange gelebt haben, nachdem es aufgenommen worden war. Kate fiel ein, dass Antibiotika damals erst langsam in Gebrauch kamen. Leute starben an Krankheiten, die wenige Jahre
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