Schatten über Oxford
ihrem Schreibtisch aus.
Sie betrachtete das grausame Bild, auf dem Flugzeuge Bomben über High Corner abwarfen. Was mochte es bedeuten? War es einfach nur die Art Zeichnung, die ein Zehnjähriger eben so anfertigte, oder steckte etwas anderes dahinter? Etwa ein Kommentar zu Elinor Marlyn und ihrem Haus? War das Bild vielleicht Ausdruck von tief sitzender Verbitterung und aufgestauter Wut? Emma wüsste über typisches Kinderverhalten sicher besser Bescheid, doch Kate mochte sie nicht anrufen. Emma würde ihr nur bohrende Fragen stellen, würde erfahren wollen, warum Kate sich dafür interessierte, um dann abschätzige Bemerkungen über Kates Recherchen zu machen und verärgert zu reagieren, weil Kate sie hinter Georges Rücken über seine Familie auszuhorchen versuchte.
Nein, sie hatte jetzt wirklich nicht den Nerv, sich Emmas Kritik auszusetzen. Trotzdem fragte sie sich einen Moment, wo ihre wahren Motive lagen. Empfand sie den Familienverband der Dolbys vielleicht doch als etwas zu selbstgefällig? Wollte sie die Leute von ihrem hohen Ross holen? Nein, nicht George. Er gab sich nicht anders als irgendein Mann, der in seinem Traumberuf Karriere gemacht hatte, in einem großen Haus in bester Wohngegend mit einer so netten Frau wie Kate Ivory zusammenlebte und keine Probleme hatte, die man nicht binnen weniger Tage aus der Welt schaffen konnte. Wenn sie aber die Dolbys nicht herabsetzen wollte, fragte sich Kate mit einer ihr gänzlich unbekannten Ehrlichkeit, warum stocherte sie dann in den Geheimnissen ihrer Vergangenheit herum?
Aber Kate, wies sie sich sofort zurecht, es handelt sich doch nicht um ein Geheimnis! Lediglich um eine Geschichte. Eine Geschichte, die du in deinen romantischen Roman einbinden könntest. Die deine Leser zu Tränen rührt. Sieh es doch einfach als Rahmenhandlung. Aber stimmte das? Kate schaffte es nicht einmal, sich selbst zu überzeugen – wie sollte es ihr dann bei Emma gelingen?
Sie beugte sich wieder über die Kinderschätze auf dem Schreibtisch und fand einige Fotos, die ihr bisher nicht aufgefallen waren. George hatte die Keksdose so geringschätzig behandelt, dass sie kaum richtig hineingeschaut hatte. Konnte es sein, dass er sie daran hindern wollte? Ziemlich unwahrscheinlich, beantwortete sie sich ihre Frage selbst. Immerhin konnte er gar nicht wissen, was die Büchse enthielt.
Die Fotos waren mit einer Ausnahme Schnappschüsse in schwarz-weiß, weder besonders scharf noch besonders interessant, wenn man sich nicht gerade wie besessen mit der Geschichte eines bestimmten zehnjährigen Jungen beschäftigte.
Ein Foto zeigte eine sehr dünne Frau mit hervortretenden Gesichtsknochen, deren langes, dunkles Haar bis auf die Schultern fiel. Sie bemühte sich, in die Kamera zu lächeln, doch das Lächeln verwandelte ihr Gesicht in einen Totenkopf. Aus den kurzen Puffärmeln ihres Sommerkleides kamen Arme, die wie fleischlose Knochen aussahen; ihre Hände wirkten wie Klauen.
Kate lief ein Schauder über den Rücken. Sie drehte das Foto um. Mama in Southend stand da in ordentlicher Kinderschrift. Ein weiteres Foto zeigte dieselbe Frau, die aber viel weniger krank wirkte; es musste mindestens ein Jahr früher aufgenommen worden sein. Sie hielt ein dickliches Kleinkind in den Armen, ein kleines Mädchen, dessen Haare zu Korkzieherlocken aufgedreht und mit einem schmalen Band zusammengehalten waren. Das Kind starrte feierlich in die Kamera, die Frau lächelte auf diesem Bild viel natürlicher. Eigentlich sah sie recht hübsch aus, obwohl ihr ein paar Pfund mehr auf den Rippen nicht geschadet hätten. Mama und Susie im Garten in der Reckitt Street stand auf der Rückseite. Christopher hatte einen auffälligen roten Stift benutzt, wohl damit niemand seine Beschriftung verändern oder sie gar löschen konnte.
Kein einziges Foto zeigte Christopher selbst. Doch das erschien Kate völlig normal – immerhin handelte es sich um seine persönlichen Schätze. Mit zehn Jahren hatte auch Kate keine Bilder von sich selbst gehortet und nahm an, dass Christopher das ähnlich gesehen hatte.
Das nächste Foto zeigte einen Mann in Soldatenuniform. Hätte Kate sich besser ausgekannt, hätte sie sicher erkennen können, welchem Regiment er angehörte, doch unglücklicherweise hatte sie keine Ahnung. Der Mann lächelte munter in die Kamera, die angesichts einer künstlichen Steinsäule und eines gemalten Hintergrunds vermutlich einem professionellen Fotografen gehörte. Sein dünner, verwundbar wirkender
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