Schatten über Oxford
später problemlos geheilt werden konnten. Und der Vater? War er aus dem Krieg heimgekehrt? Hatte er sich um die Kinder kümmern können? Was war aus Susan geworden? Sie dürfte inzwischen höchstens Anfang sechzig sein.
Sollte sie nach ihnen suchen? Nach Peckham fahren? Sie könnte den Bus in die Innenstadt nehmen und in einen Zug steigen, der in Waterloo oder Charing Cross hielt – wo auch immer man aussteigen musste, wenn man in den Südosten von London wollte. In einen Zug steigen …
Nein, das ging beim besten Willen noch nicht. Dazu war es zu früh. Noch fühlte sie sich nicht fit genug für solche Ausflüge. In ein, zwei Monaten vielleicht. Aber jetzt noch nicht. In dieser Woche auf keinen Fall. Außerdem stellte sich die Frage, ob die Familie Barnes – falls Kate sie überhaupt fand – bereit wäre, mit einer völlig Fremden über familiäre Ereignisse zu sprechen, die vielleicht immer noch schmerzten, obwohl sie schon lange der Vergangenheit angehörten. Besser wäre es, Gespräche mit Miss Arbuthnot und Naomi King zu suchen.
Kate bewaffnete sich mit einem leeren Blatt und einem Stift, um eine Liste der zu erledigenden Dinge zu erstellen.
Mit Miss Arbuthnot sprechen. Naomi King finden. Christophers Tagebuch lesen, und zwar komplett, nicht nur auszugsweise. Die Kassetten anhören, die Elspeth ihr gebracht hatte. Nachforschen, ob es noch lebende Mitglieder der Familie Barnes gab. Sich eine Handlung ausdenken. Ein Buch schreiben.
Seit ihrer Krankheit hatte Kate Probleme damit, sich für längere Zeit zu konzentrieren. Immer, wenn sie etwas in Angriff nahm, legte sie es alsbald wieder zur Seite. Ihr Kopf wurde leer und weigerte sich weiterzuarbeiten. Neben den Dingen, die jetzt auf der Liste standen, musste Kate auch noch die Bücher lesen, die sie aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Es war ihr wichtig, mehr über die Zeit zu erfahren, über die sie schreiben wollte.
Draußen schien die Sonne. Vögel zwitscherten im Garten. Es war warm. Eine sanfte Brise raschelte in den Zweigen der Bäume. Jemand hatte neben dem Terrassentisch einen Liegestuhl aufgestellt, der nicht nur einen hübschen Anblick bot, sondern auf Kate geradezu unwiderstehlich wirkte. Sie machte es sich bequem, legte ihr auf der ersten Seite geöffnetes Buch auf den Tisch und schloss die Augen.
Offenbar brauchte sie Ruhe. In der letzten Zeit hatte sie sich etwas zu viel zugemutet. Kate brachte den Liegestuhl in eine bequeme Position. Die Punkte auf ihrer Liste würde sie immer noch rechtzeitig angehen können. Wenn sie sich ein paar Minuten ausgeruht hätte, würde sie die Stuhllehne wieder aufrecht stellen und das erste Kapitel des Sachbuchs über den Zweiten Weltkrieg in einem Zug durcharbeiten. Sie würde sich Notizen machen, Daten auswendig lernen und sich dazu zwingen, endlich wieder diszipliniert und konzentriert zu arbeiten.
Als Kate die Augen öffnete, hatte sich eine dicke Wolke vor die Sonne geschoben und die Temperatur war um mehrere Grad gefallen. Sie setzte sich auf, brauchte einen Moment, um herauszufinden, wer sie war und wo sie sich befand, und kam zu dem Schluss, dass es irgendwann nachmittags sein musste und dies der Garten von High Corner war. Nein, natürlich nicht High Corner – sie saß auf der Terrasse von Georges Haus in der Cavendish Road 74. Sie machte das Buch zu, ehe die ersten Regentropfen die Seiten durchweichen konnten, dann klappte sie den Liegestuhl zusammen und verstaute ihn im Gartenhaus. Wie lang hatte sie wohl gedöst? Mindestens eine Viertelstunde.
Doch ihre Uhr bewies ihr, dass es annähernd zwei Stunden gewesen waren.
Es wurde höchste Zeit, das Abendessen vorzubereiten. Kate ging ins Haus, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, um richtig wach zu werden, und stellte bedauernd fest, dass der lange Mittagsschlaf weder ihrer Aufmerksamkeit noch ihrer Konzentrationsfähigkeit zuträglich gewesen war. Sie fühlte sich mindestens so zerschlagen wie vor der Ruhepause.
Gerade hatte sie ihr Gesicht in einem Handtuch vergraben, als das Telefon klingelte.
»Hallo?«, meldete sie sich.
»Hallo Kate? Sie klingen so merkwürdig. Ist alles in Ordnung?«
Kate legte das Handtuch beiseite. »Mir geht es prima – klingt es jetzt besser? Wer ist da überhaupt?«
»Elspeth. Sie hatten eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen.«
»Richtig.« Kate versuchte, sich angestrengt zu erinnern, welchen ihrer Gedankengänge sie Elspeth anvertraut hatte. »Es geht um Naomi King, nicht
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