Schatten über Sanssouci
vorzutäuschen, er
sei tot? Damit man dann sein Talent in Ruhe für sich nutzen kann? Und damit man
das in Ruhe tun kann, schiebt man jemandem seinen angeblichen Tod in die
Schuhe. Ihnen.«
»Aber wer steckt
dahinter? Wer will sich Andreas’ Talente zu eigen machen? Und worin bestehen
sie genau?«
»Wer dahintersteckt?
Die Feinde des Königs. Sicher, das ist etwas allgemein formuliert. Aber damit
sollten wir erst einmal beginnen, denke ich. Und nun denken Sie mal wieder ein bisschen.«
Quantz versuchte,
sich zu vergegenwärtigen, was all das bedeutete, das La Mettrie ihm gerade
dargelegt hatte. Andreas war also entführt worden. Der Tod des anderen Jungen,
der provozierte nächtliche Ausflug zum Bornstedter Feld, die Desertion des
Soldaten aus seinem Haus – das waren nur Mittel, um ihn selbst verdächtig zu
machen. Damit es so aussah, als sei er in eine Intrige verwickelt. Aber hatten
Feinde des Königs es wirklich nötig, sich mit einem Kammermusikus abzugeben?
Nein, es steckten nicht Feinde des Königs dahinter, sondern …
»Haben Sie scharf
nachgedacht?«, fragte La Mettrie. »Das Denken ist Qual und Lust zugleich. Und
ein Moment der Lust ist es, wenn man eine Schlussfolgerung ziehen kann, die das
ganze Dickicht der Gedanken erhellt wie ein Blitz.«
»Es sind nicht die
Feinde des Königs , die ich suchen muss«, sagte
Quantz. »Es sind meine Feinde. Des Königs Feinde
brauchen keinen Schuldigen. Sie hätten Andreas verschwinden lassen und statt
seiner eine fremde Leiche hinlegen können. Sie können, wie es ja wohl der Fall
ist, Soldaten zur Flucht verhelfen, noch dazu Soldaten aus des Königs
Leibgarde, und sie können damit den König treffen. Und wer des Königs Feinde
sind, wissen wir. Es ist letztlich das große Kaiserreich, mit dem sich Seine
Majestät um Schlesien streitet, das er in den letzten Kriegen errungen hat.«
Ihm kam in den Sinn,
was Fredersdorf gesagt hatte. Wir mögen Schlesien gewonnen
haben, doch die Besiegten werden diesen Verlust nicht hinnehmen. Die Feinde
Preußens ruhen nicht. Und was hier so aussieht wie ein herrlicher Frühling und
der Aufbruch in eine wunderschöne paradiesische Friedenszeit, hat auch seine
Kehrseite. »Es gibt wohl«, fuhr Quantz fort, »keinen Zweifel, dass die
Arme der österreichischen Kaiserin bis nach Berlin und wahrscheinlich auch nach
Potsdam reichen. Aber was habe ich damit zu tun? Nichts. Mich brauchen die
Feinde des Königs nicht. Wer das alles anzettelt, will also mir schaden. Und
wer weiß? Vielleicht will er sich nur den Anschein geben, politisch zu agieren.
Und in Wirklichkeit geht es ihm nur um eine sehr gute Stellung bei Hofe.«
La Mettrie nickte
langsam. »Bravo, Monsieur. Das nenne ich Klarheit der Gedanken. Einiges von
dem, was Sie da sagen, ist überlegenswert. Zum Beispiel die Frage, ob Ihre
Gegner nicht ein zu großes Risiko eingehen. Und ob die Größe dieses Risikos
nicht zeigt, dass doch eine wirkliche Spionage dahintersteckt. Ob nicht beides
verbunden ist. Aber Sie haben erkannt, worauf es ankommt. Und nun verstehen Sie
auch, warum ich während der Obduktion geschwiegen habe. Es ist ein Vorteil für
uns, wenn unsere unsichtbaren Gegner meinen, wir wüssten nicht, dass Andreas
noch lebt. Im Grunde ist es einfach. Wir müssen ihn nur suchen. Wenn wir ihn
gefunden haben, erfahren wir alles. Ja, es ist sogar sehr einfach.«
»Sehr einfach«,
pflichtete Quantz bei.
La Mettrie überhörte
die Ironie und spann seine Gedanken weiter. »Vielleicht gelingt es uns, Feinde
des Königs zu entlarven, von denen Seine Majestät noch gar nichts weiß. Wie es
seine Art ist, sucht er bisher den Feind in ungehorsamen Soldaten. Jedoch straft
er nichts anderes als versagende Werkzeuge, die er – als sie noch Menschen
waren – in seinen Dienst hat pressen lassen. Schauen Sie.«
Sie waren ein Stück
weiter in Richtung des Alten Marktes gegangen – bis an die nordwestliche Ecke
des Schlosses.
»Kennen Sie diese
Art der Aufstellung?«, fragte der Franzose bitter.
Es handelte sich um
eine rhetorische Frage, denn hinter dem Zaun bahnte sich ein Schauspiel an, das
man in Potsdam oft zu sehen bekam. Die Soldaten bildeten, angetrieben von einem
brüllenden Offizier zu Pferde, zwei lange Reihen. Es waren etwa hundert Mann
pro Linie, die zusammenrückten. Von dem Ort aus, wo La Mettrie und Quantz
standen, wirkte es, als verschmölzen die Grenadiere zu einer einzigen Phalanx,
doch zwischen den Soldaten blieb eine schmale Lücke, sodass eine Gasse
entstand.
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