Schatten über Sanssouci
kann, und deshalb werde
ich dieses Gespräch nun beenden. Aber bedenken Sie, dass Sie in einem Spiel
mitspielen, das weit größere Aufgaben stellt als die Herausforderung, bis zum
nächsten Tag ein neues Flötenkonzert zu schreiben.«
In diesem Moment kam
wie auf Kommando ein Diener, der neben dem Kutscher auf dem Bock gesessen
hatte, zur Tür und öffnete den Schlag auf Quantz’ Seite.
»Einen guten Abend
noch, Herr Kammermusikus«, sagte der Graf. »Danke, dass Sie mich begleitet
haben. Vielleicht haben Sie Lust, einmal bei mir zu musizieren? Oder Sie
komponieren einmal ein Stück für Herrn Goldberg und Sie selbst? Der König muss
es ja nicht erfahren.«
In seiner
kleinen Schlafstube übermannte Quantz die Müdigkeit. Doch gleichzeitig ließen
ihm die Ideen, die Keyserlingk vor ihm ausgebreitet hatte, keine Ruhe.
Schließlich konzentrierte er sich auf das Faktum, dass eine raffinierte Technik
der Verschlüsselung die geheime Korrespondenz des Königs schützte. Und die –
zugegebenermaßen interessante – Frage war wirklich, ob man eine solche
Verschlüsselung mit Musik vornehmen konnte. Je länger Quantz darüber
nachdachte, desto einleuchtender erschien ihm der Gedanke. Niemand würde ja in
Noten nach einem versteckten Sinn suchen, weil niemand ahnte, dass sie einen
solchen Sinn überhaupt enthielten. Bei einer unsinnigen Schrift, etwa bei einem
Buchstabensalat wie bei den üblichen Verschlüsselungen, war sofort ersichtlich,
dass ein geheimer Sinn dahinter lag und dass jemand versucht hatte, diesen zu
verbergen.
Arbeitete der König
wirklich mit musikalischen Verschlüsselungen? Und hatte Andreas, der
kombinatorisch offensichtlich hochbegabt war, diese Verschlüsselungen entziffert?
War dies der Dienst, für den man Andreas noch brauchte? Konnte es denn sein,
dass sich hinter den Noten, die Andreas geschrieben hatte, auch noch ein
anderer Sinn verbarg?
Quantz faltete die
Tabellen auseinander, in denen Mizler so viel Faszinierendes entdeckt hatte,
und betrachtete sie eine Weile. Dann läutete er nach Klara, ließ sich etwas
Kaltes zu essen bringen, zündete noch mehr Kerzen an und begann einen Brief zu
schreiben. Anton würde ihn gleich morgen zur Post bringen.
Er war an den einzigen
Menschen gerichtet, der in der Lage war, die doppelte Bedeutung von Musik zu
verstehen.
Sehr
geehrter Herr Johann Sebastian Bach …
22
Als in der
Dämmerung die Stadttore geöffnet wurden, war Quantz einer der Ersten, die
Berlin in Richtung Potsdam verließen.
Im grauen Licht des
Morgens studierte er Andreas’ Tabellen. Er hatte sich eigens einen Packen
Notenpapier mit in die Fahrgastkabine genommen, und nun schrieb er, während er
vorsichtig das Geruckel des Gefährts ausbalancierte, nach dem Zahlensystem
zweistimmige kontrapunktische Sätze. Er komponierte sozusagen, doch ohne die
geringste künstlerische Idee.
Es war tatsächlich
eine Kompositionsmaschine.
In Andreas steckte
eine ungeheure Begabung, die nicht nur musikalischer, sondern auch
mathematischer Natur war. Hatte er Quantz nicht oft weitergeholfen, als er
dessen Themen und Motive nach bestimmten Prinzipien verdrehte und die Noten
einfach in anderer Kombination angeordnet und Quantz’ Phantasie damit auf die
Sprünge geholfen hatte?
Als die Kutsche an
Zehlendorf vorbeirumpelte, hatte er alle verfügbaren Notenblätter beschrieben.
Einige der Melodien, die sich aus dem System ergeben hatten, würden ihm sicher
bei seinen Kompositionen weiterhelfen. Wahrscheinlich boten sie sogar Stoff für
viele weitere Konzerte.
Er lehnte sich in
der Kutsche zurück und versank in der Betrachtung der vorbeiwandernden
Landschaft. Schmetterlinge tänzelten über eine Wiese mit blühenden Apfelbäumen.
Er dachte an den Traum, den er so gern träumte, der ihm aber – wahrscheinlich
wegen der schlimmen Erlebnisse – in den letzten Tagen ferngeblieben war: der
Traum von Arkadien. Von einem harmonischen, herrlichen Land – landschaftlich
reizvoll mit kleinen Hainen, Wiesen und Bächen, mit fröhlichen Menschen und
Musik, die den blauen Äther erfüllte. Mit weicher Flötenmusik. Tönen, nur aus
Luft gemacht. Die perfekte Verschmelzung von Kunst und Natur.
So träumte Quantz
vor sich hin, bis die Kutsche Potsdam erreichte. Über die Lange Brücke ging es
am Schloss vorbei, dann durch die Gassen zum Kanal und über die Grüne Brücke.
Dort stieg Quantz
aus und atmete tief durch. Er hatte einen Sieg errungen. Endlich konnte er dem
König das bieten, was dieser von ihm
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