Schatten über Sanssouci
elf schlug. An der Nauenschen
Brücke blieb er stehen. Ihm blieb immer noch eine Stunde bis zu seinem Treffen
mit Weyhe. Unten vom Schloss ertönten die typischen Geräusche der Parade: Befehle,
Marschtritte – dazu der Generalmarsch mit Trommeln, Pfeifen und Oboen.
Quantz vermied es,
sich dem Areal zu nähern, und hielt sich am Kanal. Er verspürte wenig Lust,
sich unter die Aberhunderte von Schaulustigen zu mischen, die das Spektakel
täglich anzog. Das Ganze war sogar zur Attraktion für Reisende geworden und
erschien seit Jahren in den Beschreibungen der Stadt, an denen sich die Fremden
orientierten. Immerhin hatte jedermann bei der Parade die Möglichkeit, den
König zu sehen, der auf einem Schimmel reitend seine Truppen selbst
kommandierte.
Quantz befand sich
nun auf der seinem Haus gegenüberliegenden Seite des Kanals, wo das
Abbruchgebäude aufragte. Die Tür stand offen. Innen waren Haufen von
Holzbalken, Steinen und Lehmbruch zu erkennen.
An der Berlinischen
Brücke bog Quantz ab und stand kurz darauf an der Stelle, wo er Andreas zum
letzten Mal gesehen hatte.
Hier fiel ihm nichts
Besonderes auf. Der Schneider Mayer, bei dem Quantz gelegentlich seine Röcke
ausbessern ließ, arbeitete hinter der Scheibe, das Maßband um den Nacken
gelegt. Die beiden Männer begrüßten sich mit einem kurzen Nicken.
Nein, Andreas hatte
kein bestimmtes Ziel gehabt. Er hatte einfach Reißaus genommen. Und dieser
Schatten …
Quantz versuchte,
sich die nächtliche Szenerie noch einmal genau zu vergegenwärtigen.
Der Unbekannte war
Andreas dicht auf den Fersen gewesen. Hatte er nicht sogar nach ihm gegriffen?
Ihn womöglich gefangen? Oder versteckte sich Andreas vielleicht jetzt hier
irgendwo – voller Angst vor den Wachen und vor der Strafe des Königs?
Wo sollte Quantz
nach ihm suchen?
Er folgte der Straße
bis zu der kleinen unteren Ausbuchtung der Stadt, an deren Spitze die
Heiliggeistkirche stand. Sie wirkte wie ein riesiges Schiff aus Stein an der
südöstlichen Ecke der Stadt – den Bug in das dunkelgrüne Wasser der Havel
gestreckt.
Obwohl man hier so
nah am Fluss war, konnte man das Wasser nicht sehen. Wie überall sicherte eine
fast zwei Mannslängen hohe Backsteinmauer die Stadt, auf deren Krone ein
Ziegeldach ein zusätzliches Hindernis bildete. Nur die Fischer, die im Schatten
der Kirche in langen Reihen von kleinen Häuschen wohnten, durften sich zwischen
Kellertor und Kellerbrücke jenseits der Mauer bewegen, um hinaus auf den Fluss
zu fahren und ihrer Arbeit nachzugehen. Ein Stück weiter, an der Langen Brücke,
verkauften sie ihren Fang auf dem Fischmarkt.
Früher hatte Quantz
geglaubt, die Mauer, die Potsdam umschloss, sei zum Schutz ihrer Bewohner
gebaut worden. Doch in Wirklichkeit war es umgekehrt: Der König wollte
verhindern, dass Soldaten desertierten. Wer in dieser Stadt lebte, war
eingesperrt.
Der strenge Geruch
nach faulenden Fischabfällen, nach Teer und verschimmeltem Holz kündigte die
Quartiere der Flussfischer an, bevor die Gasse in Sichtweite kam. Vor einem
niedrigen Gebäude gleich bei der Kirche standen Kutschen. Dahinter warteten
Pferde in einer notdürftigen offenen Remise. Ein Mann war damit beschäftigt,
die Fuhrwerke mit einem Lappen zu reinigen. Es war Lukas Brede – der Fuhrmann,
dessen Dienste Quantz regelmäßig in Anspruch nahm.
Brede erkannte ihn
sofort, unterbrach seine Arbeit und machte einen Diener. Quantz wollte schon
ein paar freundliche Worte mit ihm wechseln, da wurde er von der anderen Seite
angesprochen.
»Der Herr
Kammermusikus. Wenn das keine Überraschung ist!«
Ein kleiner, dicker
Mann trat auf ihn zu. Er war sehr alt, ganz in Schwarz gekleidet. Besonders
auffällig war sein Bart, der wie eine eisgraue Bürste seine untere
Gesichtshälfte bedeckte. Er kam Quantz bekannt vor. Sie verbeugten sich
voreinander, doch es wollte ihm nicht einfallen, wer der Mann war.
»Professor
Sartorius«, sagte der Mann. »Es ist ein paar Jahre her, Herr Quantz, aber Sie
haben schon in meinem Hause in Berlin musiziert …«
Quantz erinnerte
sich. Es war eine Feier der Universität gewesen, zu der einige Hofmusiker
geladen worden waren.
»Welch ein
glücklicher Zufall, der uns hier zusammenführt.« In Sartorius’ Stimme mischte
sich immer mehr Begeisterung. »Wie Sie wissen, ist ja mein Fachgebiet die
Altertumskunde und die Historie der Völker – nun, das sind ja gleich zwei
Gebiete, derer ich mich rühmen kann, Experte zu sein, und mir ist noch sehr im
Sinn, dass
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