Schatten über Sanssouci
Redefluss zu unterbrechen,
bestieg er das Gefährt. Als er saß, die schwarze Tasche neben sich, gab er
Brede das Zeichen aufzubrechen.
»Ich habe mich
gefreut, Herr Quantz«, rief er durch das geöffnete Fenster. »Wie gesagt, wenn
Sie in Berlin sind … Vergessen Sie nicht … die Flötenmusik der alten
Griechen, die Musik des Orpheus und seiner Leier … Jericho …«
Die Stimme ging im
Pferdegetrappel unter. Die Kutsche entfernte sich, und Quantz fragte sich, ob
der Professor die ganzen fünf bis sechs Stunden bis Berlin vor sich hin
dozieren würde. Zuzutrauen war es ihm.
6
Rat Weyhe
griff mit der bloßen Hand nach einem der vier gebratenen Hühnerschenkel, die
vor ihm auf dem Teller lagen. Fett tropfte von seinen Fingern, und als er eine
Weile an dem Fleisch herumgenagt hatte, tropfte es auch von seinem Mund.
»Aus der Fasanerie
Seiner Majestät vor dem Nauenschen Tor«, erklärte er schmatzend, als wüsste
Quantz nicht, woher das Federvieh auf den Tafeln des Monarchen kam.
»Delikat.« Weyhe
legte den Knochen hin und deutete auf einen Stuhl, der sich vor seinem
Schreibtisch befand. »Herr Musikus, nehmen Sie doch Platz.«
Quantz ließ sich
nieder. Sein Ekelgefühl, das ihn beim Anblick des die Hühnerschenkel abnagenden
Rats überfallen hatte, steigerte sich, als ihm klar wurde, was Weyhe hier tat.
Er spielte König.
Seine Majestät hatte
ihm wohl dieses Zimmer im Stadtschloss zur Verfügung gestellt. Und Weyhe tat
gleich so, als sei das Schloss seine persönliche Residenz. Selbst die Lakaien
fehlten nicht. Einer wartete vor der Tür, ein anderer stand neben dem
Schreibtisch bereit. Von draußen drang die Geräuschkulisse der immer noch andauernden
Parade herein.
»Schließe Er das
Fenster«, befahl der Rat.
Der Diener
gehorchte, und das geschlossene Fenster dämpfte die Rufe und prasselnden
Trommeln. Er verließ den Raum und schloss die große Flügeltür hinter sich.
»Disziplinierungsmaßnahmen«,
sagte Weyhe, griff zu einer übergroßen Serviette und wischte sich den Mund ab.
»Sehr wichtig. Nicht nur für die Soldaten, sondern auch für das Volk. Aber …«
Er stieß hörbar auf. »Nicht für uns, was, Herr Musikus?« Er deutete auf die
drei glänzenden Schenkel. »Möchten Sie?«
Quantz verneinte.
»Und bitte unterlassen Sie es, mich Herr Musikus zu nennen«, sagte er. »Das
habe ich Ihnen bereits heute Morgen mitgeteilt.«
Weyhe lächelte. »Ich
pflege mich an die dienstlichen Bezeichnungen zu halten. Und hier …« Er griff
neben sich, wo er Papiere abgelegt hatte, und holte einen Brief hervor. Es war
ein Schreiben des Königs. Das Siegel war unübersehbar. »Hier steht, es sei für
den Herrn Musikus Quantz. Oder legen Sie Wert auf die Anrede Hof musikus?«
»Sie haben eine
Nachricht für mich?«
»Offensichtlich.«
»Geben Sie sie mir.«
Weyhe zog das Papier
zurück und steckte es in den Stapel. »Das hat Zeit. Erst unterhalten wir uns.
Und wir beschäftigen uns erst einmal hiermit.«
Wieder griff er
neben sich und packte einen ganzen Stapel Papiere. Es waren die Noten, die
unter Andreas’ Lager versteckt gewesen waren. Der Rat schob den Teller mit den
Hühnerschenkeln zur Seite, um Platz zu machen. »Sie, Herr Musikus, sind
derjenige, der diese Notenblätter hier in Verwahrung zu nehmen hatte. Das ist,
wie mir Seine Majestät mitteilte, Ihre Pflicht.«
»Ich weiß, aber es
lässt sich ja erklären, wie Andreas an diese Sachen kam. Wenn Sie glauben, dass
dies ernsthaft das Vertrauen, das ich beim König genieße, untergraben wird,
dann irren Sie.«
»Erklären?« Weyhe
lehnte sich zurück. »Sie verstehen, es spannend zu machen, Herr Musikus. Doch
wir sind hier nicht im Theater. Eine Erklärung, bitte.« Dabei sah er Quantz an,
als würde er nicht bitten, sondern befehlen. Das hatte er sich wohl bei
Friedrich abgeschaut.
»Andreas hat diese
Noten offenbar bei mir mitgehen lassen. Er hat seltsame Vorlieben. Er schreibt
gern Noten. Aber es ist nicht die Musik, die ihn interessiert, obwohl sie ihm
natürlich auch gefällt … Es sind die Notenzeichen, verstehen Sie? Für
viele Menschen besitzen sie einen ästhetischen Reiz. Ihre Schönheit lässt etwas
von der Harmonie erahnen, die man genießt, wenn man die Musik schließlich
hört.«
Weyhe betrachtete
Quantz, als wäre er ein exotisches Tier in einem Kuriositätenkabinett. Ob der
Rat wirklich verstand, wovon Quantz hier sprach?
»Andreas Freiberger
ist ein Idiot«, stellte Weyhe klar. »Seine Majestät wird seine Gründe
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