Schatten über Sanssouci
der Evangelien
verpflichtet waren. Dass sich die Dinge weiterentwickelten, alles nur ein
Stadium in dieser Progression war und sich sogar die Ideen und die
Vorstellungen der Dinge verändern konnten. Die Vorstellungen davon, was richtig
und was falsch war. Auch das veränderte sich also. Wie sollte man dann ein
gottgefälliges Urteil fällen? Wie sollte man sich moralisch verhalten? Immer
wieder kam man auf solche Gedanken, wenn man sich mit den Franzosen befasste!
Der König wusste
wohl, wen er sich da als Elite in seinem Reich heranzüchtete. Aber wusste er
auch, welche Folgen das haben konnte? Oder bereits hatte?
Quantz erreichte den
Kanal und trat an den kleinen, mit Holz eingefassten Abhang. Für den Monarchen
war das alles nur Zeitvertreib. Wie die Musik oder die Dichtung. Es machte ihm
Freude, Menschen um sich herum zu haben, die die seltsamsten Theorien vertraten
und ihn damit von seinen Staatsgeschäften ablenkten. Mehr konnte nicht
dahinterstecken. Oder doch?
Friedrich Wilhelm I.,
der Vater des Königs, war ein bigottes Monstrum gewesen, gezeichnet von
übertriebener Frömmigkeit, der seinen Sohn damit bestrafte, dass er kniend bis
zur Erschöpfung laut und im Beisein der höfischen Bediensteten Gebete sprechen
musste.
Quantz wurde klar,
was den König bewog, wenigstens in seiner selbst geschaffenen Welt, in
Sanssouci, mit den Ideen von Gottlosigkeit zu spielen. Es war eine Art Rache an
seinem religionshörigen Vater. Ein späte Rache. Ein spätes Ausleben der
Freiheit.
Quantz dachte an
Weyhes Reden im Schloss.
Man
muss den König vor sich selbst schützen.
Hatte der Rat das
nicht gesagt? Wie recht er hatte.
Weyhe nahm diese
Aufgabe ernst. Und Quantz war dabei leider in sein Fadenkreuz geraten.
Lange blickte er auf
das schwarze Wasser des Kanals. Dann machte er sich auf den Weg zur »Goldenen
Krone«.
Anders als bei
seinem letzten Besuch war die Gaststube voller Menschen. Sie dampfte wie eine
Waschküche. Quantz wurde von der Geruchswolke aus Suppe, Kohl und Fleisch
geradezu überwältigt.
»Alle Tische
besetzt«, rief Liese, beide Hände voller Krüge, und drückte sich an ihm vorbei.
Quantz verließ die Stube und ging den Flur entlang. Weiter hinten erschien
Schulze. Der Wirt trug eine fleckige Schürze um den dicken Bauch.
»Der Herr Musikus
beehrt uns also«, sagte er und zog die Augenbrauen hoch.
»Heute ist Ihr Haus
gut besucht, Herr Wirt.«
»Alle Tische sind
besetzt.«
»Liese sagte es
bereits, aber –«
»Würdet Ihr bitte
gehen, Herr Quantz? Wir haben viel Arbeit.« Er wandte sich wieder der Küche zu,
von wo ein lautes Zischen und Brutzeln zu hören war, doch Quantz fasste ihn an
seine massive Schulter und hielt ihn fest.
»Nicht so schnell,
Herr Wirt.«
Schulze verdrehte
die Augen. »Bitte geht«, flüsterte er. »Ihr seid nicht gut gelitten in der
Stadt.«
»Wer sagt das?«
»Alle sagen es.
Lasst mich bitte.«
»Habt Ihr unseren
Handel vergessen?«
Schulze presste die
Lippen aufeinander. »Welchen Handel?«, brummte er.
»Herr La Mettrie.
Wohnt er noch hier?«
»Ach der …«
»Vor Kurzem habt Ihr
Euch noch bei mir über ihn beschwert und mich gebeten, ein Wort beim König
einzulegen. Und nun –«
»Bitte schweigt«,
zischte der Wirt. »Das war, bevor man den toten Lakaien in Eurer Stube fand.
Und wenn man Euch erst des Mordes anklagt und hängt, dann –«
»Was redet Ihr da?«,
rief Quantz. »Ein toter Lakai in meiner Stube?« Das Gerücht hatte die Runde
gemacht. Und es hatte sich wie alle Gerüchte bei jeder Station verändert. Und
wenn es schon zu Beginn der größte Unsinn gewesen war, so hatte es sich am Ende
ins Groteske verwandelt. Doch ein wirkliches Ende gab es nicht. Es wanderte
weiter und weiter.
»Andere sagen, Ihr
hättet Eure Magd Sophie getötet. Doch das kann nicht stimmen. Ich habe sie ja
selbst auf dem Markt gesehen. Also war es der Lakai. Und ein Soldat. Euer Haus
soll Schauplatz eines Blutbades gewesen sein. Und Feuer habt Ihr gelegt. Oben
in Bornstedt. Bauern sind gestorben durch Eure Schuld.«
»Schulze, davon ist
kein Wort wahr. Ihr dürft nicht so einfach glauben, was die Leute reden.«
»Was soll ich sonst
glauben?«
»Hört mich an, ich
habe niemanden getötet. Andreas Freiberger, der Lakai des Königs, kam in
Bornstedt um. Ich habe noch versucht, ihn zu retten.«
»In Bornstedt? Wo
Ihr Feuer gelegt habt?«
»Ich habe nirgends
ein Feuer gelegt. Der Lakai war entlaufen und hat sich in einer Scheune
versteckt. Sie ist in Brand
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