Schatten über Ulldart
denn leider floss der mächtige Strom nicht durch Granburg.
Eine Gestalt, die gerade schwer bepackt auf den Schlepper zuging, erregte seine Aufmerksamkeit.
Vom Schnitt ähnelte die lehmbraune, knöchellange Robe der seinen, doch die bestickte Leinenstola, die der Unbekannte zusätzlich um die Schulter trug, passte weder zu Ulldrael- noch zu Kalisstra-Gläubigen. So sehr er sich bemühte, es fielen ihm keine Gottheiten ein, die diese Farben und Symbole nutzten.
Interessiert steuerte er auf die Gestalt zu, deren Gesicht unter der Kapuze verborgen war, bis er direkt in ihrem Rücken stand.
»Ulldrael mit Euch«, grüßte er und wartete voller Spannung auf eine Reaktion.
Die Gestalt drehte sich um, und Matuc blickte in die ergründenden, goldenen Augen einer Frau. Ihre Haut schimmerte in einem sandfarbenen Braunton, dunkelgrün leuchtende Haare waren unter der Kapuze zu erkennen und erinnerten den Mönch an Schattengras.
»Lakastra, der Gott des Südwindes und des Wissens, möge Eure Wege in die richtige Richtung lenken«, antwortete sie nach einem musternden Blick.
Fasziniert sah Matuc auf die Haare und die Haut, bis er merkte, dass er sie ziemlich offensichtlich anstarrte.
»Verzeiht einem Diener Ulldraels seine Sprachlosigkeit und seine Unhöflichkeit«, entschuldigte er sich und wurde rot. »Mein Name ist Bruder Matuc vom Orden Ulldraels.«
»Ich weiß, welchem Glauben Ihr anhängt. Man sieht es an Eurer Tracht.« Sie lächelte, und der Mönch bemerkte die spitzen Eckzähne. »Wir in Kensustria kennen uns mit den verschiedenen Göttern, die ihr Ulldarter habt, einigermaßen gut aus.« Sie schlug die Kapuze zurück, legte die rechte Hand auf Herzhöhe auf die Brust und reichte dem immer noch überraschten Matuc die linke. »Ich heiße Belkala, Priesterin von Lakastra, dem Gott des Südwindes und des Wissens. Ich bin aus Kensustria und komme in Frieden.«
Matuc, der sich allmählich wieder fing, schüttelte die dargebotene Hand. »Deshalb das für Tarpol ungewöhnliche Äußere. Was macht Ihr so weit von Eurer Heimat entfernt?«
»Ich bin unterwegs, um die Lehre Lakastras zu verbreiten.« Die Frau stellte ihre Sachen auf den Steg, bereit für einen längeren Wortwechsel, den sie mit ihren Worten herausforderte.
Der Ausdruck im Gesicht des Mönchs veränderte sich von Neugier zu latenter Feindschaft. »Ihr wollt was?«
»Ich möchte den Repol weiter hinauf fahren und mit der Verbreitung meines Glaubens beginnen«, wiederholte sie freundlich. »Habt Ihr etwas dagegen?«
Natürlich hatte er etwas dagegen, aber auf ein religiöses Streitgespräch am Steg wollte er sich nicht einlassen. Jedenfalls nicht, bevor er mehr über ihren Götzen wusste.
»O nein. Ganz im Gegenteil, Ihr müsst mir unbedingt mehr von …«
»Lakastra«, half Belkala zuvorkommend.
»… Lakastra erzählen. Eine Priesterin aus dem fernen Kensustria habe ich noch nie gesehen, und ich schätze, eine solche Gelegenheit bietet sich nicht jeden Tag.«
Der Schiffer kam aus der kleinen Station und stapfte auf die beiden zu.
»Meine Passagiere haben sich bereits kennen gelernt, dann kann ich mir die Mühe der Vorstellung sparen. Aber ich muss Euch leider mitteilen, dass sich unser Aufenthalt etwas verzögert. Wenn der Rumpf nicht demnächst ausgebessert wird, säuft uns der Kahn auf halber Strecke ab.« Er warf Belkala einen neugierigen Blick zu.
»Das bedeutet was?«, seufzte Matuc, der nur darauf wartete, dass der Mann nach den Haaren der Priesterin griff, um zu sehen, ob sie echt waren.
»Dass ich Teer und ein paar neue Planken aufstöbern muss«, erklärte der Schiffer und spuckte ins Wasser. »Bis heute Abend ist aber alles vorhanden, damit wir morgen in aller Frühe weiterschippern können.« Er schnappte sich hilfsbereit das Gepäck der Priesterin und brachte es an Bord.
»Dann schlage ich vor, wir essen gemeinsam in der Handelsstation, und ich erzähle Euch etwas über meinen Gott«, sagte die Priesterin. Matuc willigte ein.
Die Frau war, und das musste der Mönch im Verlauf des einfachen Essens eingestehen, eine begnadete Rednerin, die nicht nur hervorragend schildern, sondern ebenso gut argumentieren konnte. Ein gefährliche Mischung, wie Matuc fand.
Kensustria, das die meisten der tarpolischen Bauern immer noch für eine Legende hielten, weil sich zahlreiche Märchen an es und seine Bewohner knüpften, war ein nach Kasten geordnetes Land, an deren Spitze nach einem Umsturz vor ein paar Jahren die Krieger standen. Dann folgten
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