Schattenauge
verbrennen konnte. Der andere strahlend und kühl. Schwarz und Weiß. Sie nahm das Handy und betrachtete nachdenklich die Tasten: 2 für Weiß. 4 für Schwarz.
Irves ging schon nach dem ersten Klingeln ran.
»Bist du zufällig in der Nähe?«, fragte sie.
»Kommt darauf an, was du vorhast.«
»Mata Hari. Ich bin in zwanzig Minuten dort. Und du?«
Ein Lachen, das ihre Niedergeschlagenheit auf der Stelle wegwischte. »Keine Angst vor dem Mörder?«, fragte er.
»Hol mich ab, dann sind wir immerhin zu zweit.«
»Hast du Gil auch schön um Erlaubnis gefragt?«, fragte er spöttisch.
Zoë grinste und legte auf. Als sie ein paar Minuten später auf den Flur trat, stellte sie sich vor, was los sein würde, wenn ihre Mutter bemerken würde, dass ihr Zimmer leer war. Nur um festzustellen, dass sie sich zum ersten Mal keine Sorgen machte.
Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt und sie warf im Vorbeigehen einen Blick hinein. Ihre Mutter schlief auf dem ausgezogenen Sofa so tief, dass Zoë nicht einmal ihr Atmen wahrnahm. Selbst jetzt sah man noch, dass sie geweint hatte. Leon hatte sich bei ihr eingekuschelt. Mit offenem Mund blies er mit einem kleinen, erkälteten Kinderschnarchen vor sich hin. Die Zärtlichkeit für die beiden überwältigte Zoë so sehr, dass ihre Augen brannten und sie schlucken musste. Zwei, drei tiefe Atemzüge lang blieb sie noch stehen. Dann schloss sie ganz sachte die Wohnzimmertür und ging.
Die Bushaltestelle war leer und auch auf der Straße war Irves nirgendwo zu sehen. Doch als Zoë die Straße überquerte, ließ ein leiser Pfiff sie herumfahren. Sie drehte sich um und entdeckte ihn – oben im ersten Stock, auf dem Geländer eines der kleinen Frontbalkone sitzend. Er grinste ihr zu – und sprang! Zoë hielt erschrocken die Luft an. Sein weißer Mantel flatterte, dann landete Irves mühelos mit einer federnden Bewegung und richtete sich seelenruhig auf. In seinen Augen funkelte der Schalk, als er sah, wie blass sie geworden war.
»Na, hätte ich mir ja denken können, dass du die Treppe nimmst«, meinte er und ging voraus.
Beim letzten Mal war sie nur deshalb ins Mata Hari gekommen, weil der Türsteher sie für die Begleitung eines Studenten gehalten hatte. Doch mit Irves unterwegs zu sein hatte etwas von »Sesam, öffne dich!«. Der Türsteher winkte sie beide einfach durch und das Mädchen an der Kasse schenkte Irves ein mehr als verliebtes Lächeln (bevor sie Zoë entdeckte und das Lächeln schlagartig gefror).
Dröhnende Bass-Vibes ließen Zoës Haut kribbeln, als sie die Lounge betraten. Ein anderes Universum: Schwarzlicht und violette Blitze. Obwohl es noch nicht spät war, kochte die Tanzfläche. Tausend Tonsplitter und Geruchswahrnehmungen, die sich zu einem Gesamteindruck mischten. Zoë war überrascht, aber sie wehrte sich nicht, als Irves ihre Hand nahm und sie mit sich auf die Tanzfläche zog. Ganz von selbst verbanden sich ihre Bewegungen mit der Musik. Sein Duft umhüllte sie, und die farblosen Raubtieraugen, die im jetzt roten Scheinwerferlicht aufleuchteten, waren ganz nah. Eine Wellenlänge. Keine Geheimnisse mehr. Stattdessen ein Gleichklang, der in seiner extremen Nähe beunruhigend, aber auch aufregend war. Nur aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass jede Frau in diesem Raum zu ihnen herüberstarrte. Dann verschwamm auch dieser Eindruck und es gab nur noch Irves und sie. Sein Lächeln, den hypnotischen Perlmuttblick und das Begreifen, dass sie für Momente einfach nur schwebte und glücklich war.
Keine Mail von Rubio. Und Irves hatte nichts Besseres zu tun, als sein Handy auszustellen. Immerhin war er berechenbar. Es gab nur vier Clubs, in die er zurzeit ging, und schon im ersten wurde ich fündig. Eigentlich hätte ich nur den Blicken der Frauen folgen müssen, aber auch so war er nicht zu übersehen: der Geistermann. Mitten auf der Tanzfläche – in voller Aktion. Jetzt blieb sogar ich stehen und betrachtete ihn fasziniert. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Panthera im Blut und der geschmeidige Beat eines Tänzers. Dann glitt er zur Seite und mir klappte die Kinnlade nach unten. Er war nicht allein. Beide Tänzer bewegten sich im Gleichklang. Beide in Weiß, nur dass auf einem T-Shirt dieser rote Kreis leuchtete, den ich schon einmal gesehen hatte. Vor … hundert Jahren?
Das war nicht mehr Zoë. Das war eine Panthera durch und durch. Die Art, wie sie sich bewegte, die verhaltene Aggressivität. Hart an der Grenze. Und mehr als das. Rubios Bild von
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