Schattenauge
U-Bahn auf der Suche nach Miss Underground. Auch ihr hinterließ ich Botschaften. Falls sie mich sah, verbarg sie sich gut. Na ja – es war ja auch ihr Revier. Schließlich holte ich mir eine Packung Gulasch aus einem Billigmarkt, schlang es hinunter und sah mir dabei die Nachrichten auf den Bildschirmen an den Bahnhöfen an. Natürlich ging mir Zoë nicht aus dem Kopf, aber ich brachte es aus irgendeinem Grund nicht fertig, zu ihr zu gehen.
Als ich wieder an die Oberfläche tauchte, war es dunkel geworden. Die Lichter der Stadt brummten und surrten, ich hörte das klappernde Flügelschlagen von Motten, die mit der Leuchtschrift über einem Dönerstand flirteten. Ohne viel Hoffnung wählte ich wieder Rubios Nummer – und bekam einen kleinen Schock, als er tatsächlich abhob. »Rubio?«
Ich musste fassungslos klingen, denn ich hörte sein heiseres, tiefes Lachen, das in ein Husten überging.
»Jetzt mach dir mal nicht in die Hosen vor Schreck, Junge«, sagte er. »Gut, dass du anrufst. Ich schreibe dir gerade eine Nachricht.«
An diesem Punkt der Unterhaltung hätte ich jeden Eid geschworen, dass ich nicht mit Rubio sprach. So freundlich kannte ich ihn gar nicht.
»Hast du gehört? Marcus ist tot«, sagte ich.
»Ich weiß. Und er wird nicht der Letzte sein.« Ein resigniertes Atemholen. »Aber es geht mich nichts mehr an. Meine Koffer sind gepackt. Zeit, die Stadt zu wechseln.«
»Du haust ab?«, rief ich.
»Allerdings. Und wenn du klug bist, verschwindest du auch. Die anderen sind es nicht wert. Aber d u … Also jedenfalls: Bring dich in Sicherheit.«
»In Sicherheit vor wem?«
»Ist das wichtig?«, murmelte er.
Dazu hätte ich eine Menge zu sagen gehabt, aber die Türklingel, die in diesem Moment losschrillte, prasselte wie eine Funkendusche auf mein Trommelfell.
»Lies dir meine Nachricht gut durch«, sagte Rubio müde. »Leb wohl, Märchenerzähler.«
»Rubio, verdammt, wa s …«
Dann war er weg. Einfach aufgelegt. Als ich seine Nummer wählte, erklärte mir die mechanische Ansage, dass der Teilnehmer im Augenblick nicht erreichbar sei. Türklingel , dachte ich. Er ist also zu Hause . Na ja: Falls nicht gerade der Taxifahrer geklingelt hatte, der ihn zum Flughafen bringen sollte.
Ich blickte auf die Uhr. 22.37. Nächste U-Bahn zum Lindenplatz in zwei Minuten.
Es war kein gutes Gefühl, den Platz zu betreten. Im Schatten glaubte ich Julian zu sehen, aber es war nur ein Betrunkener, der sich an den Hauswänden entlang nach Hause tastete. Im Café saß ein Nachtschwärmer und surfte am Rechner. Als ich zu Rubios Fenstern hochblickte, verlor ich fast den Mut. Sie waren dunkel. Und als ich vor der Tür stand, fiel mir auf, dass sein Klingelschild weg war. Auch an den Wohnungen unter und über ihm kein Name. Unendlich lange schrillte die Klingel – so lange, dass ich es selbst nicht mehr ertragen konnte. Wäre er da gewesen, hätte er die Klingel längst ausgestellt – oder wäre wahnsinnig geworden.
»Verdammt!«, zischte ich. Dann rief ich Gizmo an.
»Na, hast du dich wieder beruhigt?«, sagte er. »Ich bin gerade dabei, deine Bilder runterzuladen. Wo bist du?«
»Bei Rubio. Er hat mich angerufen. Sieht so aus, als wollte er ebenfalls die Sachen packen und verschwinden. Hör zu, du musst in meine Mails schauen. Da muss eine von Rubio dabei sein.«
Promptes Klickern. »Passwort?«, fragte er.
Ich zögerte nur kurz. Jetzt war es auch schon egal, ob Gizmo einen Blick in meine Mails warf. »NomadE92. Das N und das E groß.«
Klicken. »Nichts da.«
»Sieh noch mal nach! Schau auch im Spam-Ordner!«
»Nope«, sagte Gizmo.
Ich fluchte.
»Soll ich dich abholen?« Unglaublich, aber wahr: Jetzt klang auch der abgebrühte Gizmo leicht beunruhigt.
Ich blickte an der Fassade hoch. Sie war glatt auf dieser Seite – aber über dem zweiten Stock gab es einen Vorsprung. Wenn ich am gegenüberliegenden Haus hochkletterte und dann einen Satz zum Vorsprung machte, konnte ich vielleicht zur Frontfassade klettern und einen Blick in Rubios Fenster werfen.
»Nicht nötig«, erwiderte ich. Ich konnte es mir nicht verkneifen: »Du weißt ja: Ein Killer kommt zurecht. Ich sehe mich nur noch kurz um, dann verschwinde ich. Ruf mich sofort an, wenn die Mail eintrudelt!«
Ich zog meine Schuhe und die Jacke aus und legte beides auf die Türschwelle. Dann suchte ich nach dem Winkel, der mir am ehesten Sichtschutz geben würde. Am Tag wäre es schon riskant gewesen, aber selbst in der Nacht hatte ich beste
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