Schattenauge
Chancen, dass mich jemand an der Fassade hängen sah. »Risiko«, flüsterte ich, dann stützte ich mich auf einer Mülltonne am gegenüberliegenden Haus auf und stieß mich ab. Meine Fingernägel kratzten über den Putz, dann hatte ich meinen Halt in einer Mörtelritze gefunden und zog mich hoch. Die Wahrnehmungen verdichteten sich auf der Stelle. Und gegen meinen Willen musste ich mir eingestehen, dass ich das Klettern genoss. Im dritten Stock klammerte ich mich an ein Fensterbrett, schätzte die Entfernung zu Rubios Haus ab – und sprang. Fingernägel kratzten über Beton, dann hatte ich Halt gefunden.
Um zum Fenster zu gelangen, musste ich die Deckung aufgeben und um die Ecke zur Vorderfront biegen. Die Kante drückte gegen mein Brustbein. Ein Blick von oben auf den Lindenplatz: Die U-Bahn-Station wirkte wie die Trichterfalle eines Ameisenlöwen, der geduldig darauf wartete, dass die Passanten ihm in den Schlund rutschten. Im Café spülte die Bedienung in tiefer Konzentration Biergläser aus. Gut.
Vorsichtig schob ich mich oberhalb des Vorsprungs entlang weiter zu Rubios Fenster. Mein ganzes Gewicht lastete auf den Fingergelenken und den Zehen. Am Vorsprung angekommen, verhakte ich mich sorgfältig mit dem rechten Fuß und pendelte dann mit dem Oberkörper nach unten. Jetzt wurde ich direkt von der Straßenlaterne angeleuchtet. Fehlte nur noch die Zirkusmusik.
Das Zimmer war dunkel, aber das Licht der Stadt genügte für meine Augen: Katzenaugen mit Restlichtverstärker: tapetum lucidum. Erst erschrak ich, als zwei Augen zurückleuchteten, aber dann erkannte ich, dass es nur eine Leopardenmaske mit Perlmuttaugen war, die über der Tür hing.
Ganz unten rechts an der Fensterscheibe prangte ein Klebesiegel. Kaum zu glauben, aber wahr: Rubio hatte Panzerglas in die Fenster einsetzen lassen. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie groß seine Angst sein musste. Ich konzentrierte mich wieder und spähte in Rubios Reich. Ein großes Zimmer. Wenn er tatsächlich abgereist war, hatte er nicht viel mitgenommen. An den Wänden hingen noch Bilder, ein Regal voller Bücher und kleiner Skulpturen stand neben der Tür. Und – direkt unter dem Fenster – ein unberührtes Bett mit glatter Tagesdecke. Meine Stimmung sank auf den Nullpunkt. Kein Zweifel: Er war weg.
Lachen brach sich laut in meinen Ohren, Grölen, das Schleifen von Gummisohlen auf dem Asphalt. Unten schlenderten ein paar Leute aus der U-Bahn die Treppen hoch. Bis hierher konnte ich den süßlichen Duft von Alkopops riechen. Mir brach der Schweiß aus. In ein paar Sekunden würden sie auf dem Platz sein. Keine Zeit für den langen Rückweg.
Ich vergewisserte mich mit einem Über-Kopf-Blick, dass der Boden vor dem Haus eben war und keine Scherben herumlagen. Dann sprang ich. In der Luft überließ ich den Instinkten die Regie. Mein Körper drehte sich, dann sah ich den Boden heranrasen. Ich ächzte, als der Aufprall alle Luft aus meinen Lungen drückte. Mit der ganzen Muskelspannung fing ich mich auf allen vieren ab und federte nach. Wie immer war es ein Gefühl, als würden alle Knochen in meinem Körper mühsam wieder ihren Platz suchen. Sohlen und Hände taten höllisch weh, aber ich war unten. Unverletzt und unentdeckt. Als die Jungs endlich die Treppen hochgewankt waren, hatte ich schon längst meine Sachen erreicht. Ich schnappte mir die Schuhe und wollte sie gerade anziehen, als ich in der Nähe der Tür auf etwas trat. Ich tastete nach meiner Sohle und fühlte etwas Scharfkantiges – wie einen biegsamen Splitter. Als ich ihn zwischen den Fingern drehte, fühlte ich, dass er aus Kunststoff war. Eine Art zusammengerollter fester Folie. Als ich die Finger öffnete, schnappte er auseinander. Eine kreisrunde, winzige Scheibe lag in meiner Hand. Ungeduldig streifte ich sie ab und zog Jacke und Schuhe an. Dann zückte ich das Handy.
Zoë hatte gedacht, dass sie nach diesem Tag vor Erschöpfung wie eine Tote schlafen und zerschlagen aufwachen würde, aber als sie die Augen öffnete, war sie hellwach und völlig ausgeruht. Sie war mit den Ohrhörern bei laufender Musik eingeschlafen. Die Musik spielte noch. Irves’ Mix pulsierte durch ihren Körper. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es erst kurz vor elf war.
Zoë schloss noch einmal die Augen und tauchte in die Klänge ein, die sich zu Bildern formten: Gil und Irves. Der eine düster und ernst, erfüllt von einem Glühen wie Lava unter Vulkangestein, an dem man sich die Finger (und das Herz?)
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