Schattenauge
misstrauisch an. »Du riechst wie der Räuber!«, maulte er und brach zu ihrer Überraschung in Tränen aus. Und das war erst der Anfang. Ihre Mutter kam noch weniger mit Leons schlechter Laune klar als Zoë. Und als Leon quengelte, dass er wieder zu Andrea wolle, war die Stimmung an diesem Abend so gereizt wie noch nie. Es war, als wäre irgendetwas aus dem Takt geraten, als sei die ganze Familie eine Maschine, deren Zahnräder auf einmal nicht mehr richtig ineinandergriffen. Diesmal ging die Fernbedienung wirklich zu Bruch, als ihr Bruder sie auf den Boden warf, während zum hundertsten Mal die Nachrichten über die jüngsten Morde in der Stadt über den Bildschirm flimmerten. Doch heute sprang Zoë nicht auf, um sich um ihren Bruder zu kümmern. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, sich von dem Lärm und der Aggression nicht an die Grenze drängen zu lassen. Das kostete unendlich viel Kraft und Konzentration. Sie nahm die kleinste Stimmung wahr wie eine Berührung, jedes wütende oder genervte Wort wie einen elektrischen Impuls, der die Farbstimmung im Raum veränderte. Und selbst die Ohrstöpsel nützten nicht viel bei Leons Geschrei. Für einen Moment wünschte sie sich tatsächlich, Leon packen und schütteln zu können.
Gerade rutschte er vom Sofa und stieß dabei mit dem Fuß ein Glas Apfelsaft um, das auf dem Couchtisch stand. Ihre Mutter begann mit Leon zu schimpfen und Leon heulte noch lauter. Normalerweise wäre Zoë nun sofort eingesprungen und hätte ihren kleinen Bruder getröstet, damit ihre Mutter in die Küche (ins Bad, auf den Balko n …) gehen konnte, um Abstand zu haben. Heute aber stand sie ruhig auf, ging zur Tür und blieb mit verschränkten Armen stehen.
»Was ist los mit dir?«, schalt ihre Mutter sie, während Leon heulend an Zoë vorbei aus dem Zimmer stürmte und die Tür zu seinem Zimmer so laut zuwarf, dass die Scheiben des Wohnzimmerschranks klirrten. »Du bist sauer, weil ich dir das Training nicht erlaube, stimmt’s?« Ihre Mutter sprang auf und rieb sich die Stirn. »Herrgott, ich habe keinen Nerv mehr für dieses Affentheater!«, stöhnte sie. »Ich muss morgen Vormittag zu einer Schulung, ich brauche meine Ruhe, sonst werde ich noch verrückt!«
So viel zum Thema: Der nächste Samstag gehört ganz mir , dachte Zoë. Doch seltsamerweise war sie nicht überrascht. Und noch seltsamer war, dass sie gar kein Bedürfnis hatte, sich zu verteidigen.
»Und zu allem Überfluss darf ich mir demnächst überlegen, wo ich das Geld für den Kindergarten herbekomme«, fuhr ihre Mutter fort. »Dr. Rubio verkauft sein Haus und zieht weg. Das sagt er mir einfach so – am Telefon. Den Makler hat er schon beauftragt. Ich darf ihm gerade noch beim Kofferpacken helfen – und dann: ›Tschüss, danke, das war’s, Gisela!‹«
Etwas in Zoës Innerem hatte sich verschoben. Sie betrachtete ihre Mutter auf ähnliche Art, wie sie heute David betrachtet hatte: Als würde sie weit entfernt sitzen und auf eine Bühne blicken. Sie sah eine Frau, die mit siebzehn Jahren eine Tochter bekommen hatte und nun alles und jeden für ihre verpassten Chancen verantwortlich machte und ständig auf der Flucht war – in die Arbeit, auf den Balkon, zu einer Schulung, zu Dr. Rubio – auf jeden Fall aber weg von ihrem Zuhause.
»Ich bin tatsächlich sauer, ja!«, antwortete Zoë ruhig. »Aber nicht, weil du mir das Training verbieten willst. Sondern weil du es aus den falschen Gründen tust. Ich bin sauer, dass du meine Zeit opferst, damit du dich als Märtyrermutter fühlen kannst, statt dir Hilfe zu holen. Ich bin sogar stinksauer, weil du deine Probleme komplett auf mich abwälzt. Ich fühle mich wie in einem Gefängnis! Ich bin nicht Leons Mutter, Mama. Und auch nicht deine beste Freundin, der du deine Probleme anhängen kannst! Und ob du den Wisch für Frau Thalis unterschreibst oder nicht: Ich werde zum Training gehen!«
Es war das erste Mal, dass sie ihre Mutter völlig sprachlos erlebte. Es tat ihr leid und machte sie traurig, aber gleichzeitig fühlte sie sich so erleichtert, als hätte sie eine unendlich schwere Last abgeworfen.
Rubio hatte wieder nicht auf meine Mails geantwortet. Sein Telefon war abwechselnd besetzt und ausgeschaltet. Also machte ich mich nützlich und schickte Gizmo die Bilder. Dann lief ich durch die Stadt und schrieb neben die Zeichen der anderen mein »Gil« und kritzelte mit Bleistift ein paar Erklärungen und Fragen daneben. Ein paar Stunden verbrachte ich in der
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