Schattenauge
Zeichnungen, die mit Reißnägeln an die Tapete gepinnt waren, atmeten im Wind. Die meisten davon waren Steckbriefe, aber da hingen auch einige meiner Porträts. Zum Glück befanden sich meine ganzen Skizzen von Zoë noch auf dem Zeichenblock.
Ich bezweifelte, dass die anderen Bilder Irves jemals aufgefallen waren. Zoë trat dagegen zielstrebig auf ein Bild zu, das ich aus dem Gedächtnis gezeichnet hatte, und betrachtete es eine ganze Weile. Ich wunderte mich über den argwöhnischen Blick. »Wer ist das?«
Ich verschränkte sofort die Arme, um meine Nervosität zu verbergen. »Ghaezel. Meine … meine Schwester.«
Der misstrauische Zug um ihren Mund verschwand und sie lächelte mir überrascht zu. »Sie sieht jemandem ähnlich, den ich kenne. Lebt sie noch in Paris?«
Ich nickte zögernd.
»Und die Kinder?«, wollte sie wissen.
»Neffe und Nichte. Isabelle ist erst ein Jahr alt. Thierry ist vier.«
»Mein Bruder ist fünf.«
Wieder eine Pause. Ihre Ruhe verunsicherte mich. Und auch die Art, wie sie sich umsah, von Zeichnung zu Zeichnung ging und jede einzelne sorgfältig studierte. Bilder von Leuten aus Algier, ein Porträt von Charles (einem Freund, mit dem ich immer in den Rues de la Casbah herumgehangen hatte) – und schließlich meine Großmutter, die das Kochfeuer anfachte: Flammen zwischen drei Steinen, auf denen der Topf stand.
Dieses Bild betrachtete Zoë besonders lange. Im schwachen Schein der Fünfundzwanzig-Watt-Birne schien sie zu leuchten. Helle Haut, das zarte Profil und das Schneewittchenhaar, das ihr über den Rücken fiel. Doch dazu diese neue Facette, die Aufmerksamkeit eines Raubtiers. Es fühlte sich an wie Verrat. Ich schluckte und zwang mich dazu, den Blick abzuwenden.
»Du zeichnest wirklich gut«, sagte sie ehrfürchtig. »Du solltest etwas daraus machen. Du könntest Grafiker werden oder Illustrator.«
»Zoë, was willst du hier?«, fragte ich grob.
»Nur ein paar Antworten«, antwortete sie leise. »Ich kenne dich kaum.«
Dafür kennst du Irves umso besser.
»Du kommst aus dem Maghreb, aber du bist Franzose, oder? Und auch Muslim?«
»Kein Muslim«, erwiderte ich knapp. »Und zum Franzosen fehlt mir der Pass.«
»Auf der Brücke hast du mir erzählt, dass dein Vater Franzose war. Dann kannst du den Pass doch beantragen.«
Das wollte ich auch , dachte ich. Bevor alles anders wurde.
Sie wartete eine Weile auf eine Antwort, doch als ich hartnäckig schwieg, begann sie wieder zu sprechen: »Gut, dann fange ich eben bei mir an: Mein Vater stammt aus Kanada. Er kam als Austauschschüler hierher. Angeblich hat er indianische Vorfahren – ich glaube nicht, dass es stimmt, aber auf dem Foto, das ich von ihm habe, versucht er, wie ein Indianer auszusehen, und trägt das Haar lang. Meine Mutter und er waren beide erst sechzehn, als sie sich verliebten. Er war längst wieder in Kanada, als ich zur Welt kam. Ich habe ihn noch nie getroffen und weiß auch nicht, was er heute macht. Du hast gesagt, du hast ein paar Jahre bei den Nomaden gelebt? Wie bist du dann nach Paris gekommen?«
Sie hatte zweifellos ein gutes Gespür dafür, wie sie mich zum Reden bringen konnte. Geschichte gegen Geschichte. Meine Großmutter hätte jetzt anerkennend genickt.
»Mein Vater war Ingenieur in Algier«, erwiderte ich widerwillig. »Aber er starb bei einem Unfall. Meine Mutter wollte nicht zu ihrem Stamm zurückgehen, aber sie ließ Ghaezel und mich für ein paar Jahre bei ihren Verwandten, bis sie sich in der Stadt eine Existenz aufgebaut hatte. Sie arbeitete als Dolmetscherin – unter anderem für das Konsulat und für verschiedene Firmen aus dem Ausland. Sie plante immer, mit uns nach Frankreich zu gehen. Ich bin mit europäischen Märchen aufgewachsen – und sie sprach oft mit uns Französisch. Ein Bruder meines Vaters schickte Schulgeld, sodass ich ein paar Jahre auf die internationale Schule in Algier gehen konnte. So lernten wir auch noch Englisch. Ghaezel besuchte die Schule nur ein paar Jahre. Sie heiratete früh. Als meine Mutter vor zwei Jahren krank wurde und starb, ging Ghaezel mit ihrer Familie tatsächlich nach Paris. Thierry wurde schon in Paris geboren. Und ich reiste ihnen dann ein Jahr später nach. Ich wollte dort meinen Schulabschluss machen.«
Am Leuchten in ihren Augen erkannte ich, wie fasziniert sie von dieser Geschichte war. »Aber warum hast du Ghaezel verlassen und all das aufgegeben?«, fragte sie und beugte sich vor, um das Porträt meiner Schwester noch genauer
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