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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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meine Reflexe hatten nach dem Zusammenprall mit Maurice noch funktioniert. Ganz schwach erinnerte ich mich an den leicht metallischen Geruch des Flusses. Ich war wohl vom Planetarium aus nach Süden abgehauen. Wie war ich über die Brücke gekommen? (Ich hoffte nur, ich hatte Kleidung angehabt!) Was natürlich nur halb so interessant war wie die Frage, wie ich es geschafft hatte, Maurice zu entwischen, bevor er mich ganz auseinandernehmen konnte.
    Lappen runternehmen, dachte ich. Eins nach dem anderen. Vorsichtig hob ich die Hand und tastete nach dem Kühlen, das meine Augen bedeckte. Meine Finger streiften meine Stirn. Das fühlte sich nicht gut an. Entweder hatte mir Gizmo einen ziemlich verknautschten Lappen über die Augen gelegt oder mein Gesicht sah aus wie ein ausgebeulter Kartoffelsack. Meine Fingerspitzen berührten kaltes Nass. Es war ein zum Beutel geschlungenes T-Shirt, mit Eiswürfeln gefüllt. Dann bestand für mein Gesicht ja noch Hoffnung. Vorsichtig hob ich den Packen herunter und blinzelte. Verschwommen sah ich Gizmos Keller. Alles auf einem Haufen: seine Macs, gestapelte Kisten, ein Kühlschrank. Leuchtstofflicht und verstaubte Glasbausteine, hinter denen keine Sonne war. War das da draußen noch die Morgendämmerung oder hatte ich etwa den ganzen Tag im Koma verbracht? Ich musste nicht erst auf mein Handgelenk schauen, um zu wissen, dass die Uhr weg war.
    »Wie spät ist es?«, nuschelte ich.
    Lippe: geschwollen, fuhr ich mit der Liste fort.
    Als ich keine Antwort bekam, wandte ich den Kopf zu dem Verhau aus Regalen, die sich scheinbar willkürlich entlang der Wand auftürmten. Dazwischen Gizmos schmaler Rücken und drei Mac-Monitore, auf denen es flimmerte. Programmiercodes auf dem mittleren, rechts und links davon ein Nachrichtenkanal und eine der fünf Stadt-Webcams, deren Bilder Gizmo gerne abrief. Im Moment war die Kamera, die die Skyline am Fluss zeigte, auf dem Schirm. Die Spinnweben und der graue Beton des Kellerraums bildeten einen harten Kontrast zu der Hightech-Szenerie. Ich fragte mich jedes Mal, wie Gizmo die ganzen Frequenzen und Piepsgeräusche aushielt, ohne durchzudrehen.
    »Es ist gleich vier Uhr«, beantwortete mir Gizmo endlich meine Frage, während er weiter konzentriert auf der Tastatur herumhämmerte. »Am Nachmittag.«
    »Mist!«, stieß ich hervor. »Dann habe ich meine Schicht verpasst.«
    Gizmo tippte noch eine Zeile ein und schwang dann auf seinem Bürostuhl zu mir herum. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, konnte ich nicht fassen, dass er sein Geld mit Raubkopien und dem Verkauf geklauter Macs verdiente. Mit seiner runden Brille (einer Attrappe mit Fensterglas, das hielt er vermutlich für witzig) und dem Gesicht eines Klosterschülers wirkte er wie Schwiegermutters Traum. Man wollte ihn an die Sonne schicken, ihm ein Eis kaufen und einen Besuch beim Friseur spendieren, weil sein hellbraunes Haar so aussah, als würde er es bei Bedarf einfach mit der Kabelschere zurückstutzen. Ich vermutete jedenfalls, dass er genau das tat. Mit seinen sehr regelmäßigen Gesichtszügen und dem schlanken Körper sah er nicht schlecht aus, aber er trug fast nur spinatgrüne und türkisfarbene Polohemden. Wer uns zusammen sah, wäre nie auf die Idee kommen, dass wir irgendetwas miteinander zu tun hatten. Aber Kleidung täuscht niemanden über unser Wesen hinweg und spielt deshalb auch keine Rolle für uns. Genauso wenig wie Namen. Ich hatte sogar mal gewusst, wie Gizmo wirklich hieß, aber inzwischen erinnerte ich mich nicht mehr daran.
    »Morgen kannst du deine Schicht auch vergessen«, sagte er trocken. »Es wird eine Weile dauern, bis du wieder Kisten schleppen kannst. Schon mal unter die Decke geschaut?«
    »Decke« war nett ausgedrückt. Ich lag auf dem alten gelbbraun karierten Sofa vom Sperrmüll, das Gizmo als Bett diente, unter einer Luftpolsterfolie, die eigentlich für die Verpackung von Elektrogeräten gedacht war. Meine Nackenmuskeln begannen zu brennen, als ich mühsam den Kopf hob, bis mein Kinn die Brust berührte. Und als ich die Folie anhob, war wenigstens eine meiner Fragen beantwortet: Ich war tatsächlich nackt. Und quer über meinen Oberschenkel zogen sich vier dick verkrustete Kratzer. In dem Moment, da mein Blick auf sie fiel, fingen sie an, höllisch zu brennen. »Scheiße«, murmelte ich. Dabei hatte Maurice nicht mal richtig zugelangt. Ob er die Erinnerung daran irgendwie bewahrte? Träumte er davon und wachte mit einem zufriedenen Grinsen auf? Ich schwor mir,

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