Schattenauge
das wer weiß wem gehört hatte, und reichte es mir. Als ich es an mich nahm, bemerkte ich, dass meine Finger dunkel von rußigem Schmierfett waren. Gizmo schien mir anzusehen, wie krampfhaft ich nach einem Erinnerungsbild suchte, einem Geruch, einer Berührungssequenz, nach irgendetwas.
»Immer noch auf der Suche, Gil?«, sagte er und sah mir in die Augen. »Ich kann es dir nur immer wieder sagen: Hör auf, damit zu hadern. Hör auf, so zu tun, als wäre es etwas, das du ändern kannst.«
»Ich weiß, dass ich es nicht ändern kann«, erwiderte ich heftig. »Aber ich will nicht so leben wi e …«
Abrupt verstummte ich.
»Wie ich?« Gizmo zuckte mit den Schultern. »Zwingt dich ja niemand dazu. Aber es ist wie mit dem Schwimmen: Lass dich drauf ein und du bleibst oben. Stemm dich gegen die Wellen und du wirst früher oder später absaufen.«
Auf dem Bildschirm mit dem Nachrichtensender holte die Kamera gerade einen Reporter ins Bild, der im Nachmittagslicht auf der Brücke stand. Hinter ihm schwenkte eine Gruppe von Leuten mit grünen Pullovern und Hüten Bierflaschen. »Zur Feier des St. Patrick’s Day wird in diesem Jahr der Fluss zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt grün eingefärbt«, erklärte er. »Das berühmteste Vorbild dieser irischen Tradition am St. Patrick’s Day, der heute in aller Welt gefeiert wird, ist der Chicago River. Auch bei uns wird zum Einfärben des Wassers Uranin verwendet.« Die Kamera fing einige Boote des Technischen Hilfswerks ein, die mit der Chemikalie an Bord stromaufwärts fuhren. Und dahinter die Häuserfront am Fluss. In allen Hochhausfenstern standen Leute, sahen sich das Spektakel an und lachten.
Ich schluckte. Das normale Leben zog mit dem »Live«-Vermerk vor mir vorbei.
»Macht es dir nichts aus?«, fragte ich leise.
»Nö«, sagte Gizmo. »Wozu auch? Warum soll mich interessieren, warum es gerade mich getroffen hat – oder dich? Alles Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Aber wenn du mich fragst: Etwas Besseres kann einem nicht passieren.«
»Etwas Besseres!« Ich spuckte diese zwei Worte verächtlich aus. »Du hast den ganzen Rücken voller Narben, ich habe es gesehen. War das echt das Beste, was dir im Leben passieren konnte?«
»Vielleicht ja«, sagte Gizmo so ernst, dass ich mich wieder einmal fragte, ob er sich insgeheim nicht doch über mich lustig machte. »Wunden verheilen. Man lernt daraus.«
Okay, er meinte es tatsächlich ernst. Das Piepsen und Surren der Geräte war lauter geworden. Ich atmete durch. Da war es wieder: das Aufblitzen irgendwo in den Gedanken. Irgendwas mit Maurice. Ich hatte es ganz deutlich gesehen.
»Hör zu, Philosoph«, fuhr Gizmo geduldig fort. »Den Kodex lernt man nun mal am eigenen Leib. Ist wie das Geborenwerden und Sterben. Es ist kein besseres oder schlechteres Leben. Es ist das neue Leben. Das endgültige. Ein anderes kriegst du nicht!«
Jetzt hatte ich wirklich gute Lust, einen dieser Monitore zu nehmen und ihn gegen die Wand zu schmettern.
»Hört ihr euch eigentlich selbst zu – du und Irves?«, fuhr ich ihn an.
Oh ja, mein endgültiges Leben! Du betrittst das Revier eines anderen – und bereust es. Zwangsläufig lernst du hinzusehen, wahrzunehmen. Du lernst, dass dir keiner hilft, wenn es zur Sache geht. Du lernst, zu fliehen und dich unsichtbar zu machen. Lernst, einsam zu sein. Ohne Ghaezel und ihre Kinder. Ohn e …
»Gesetz des Dschungels«, sagte Gizmo, als hätte er meine Gedanken gelesen. Jetzt hätte ich auch noch heulen können. Je schwächer ich war, desto deutlicher fühlte ich den Phantomschmerz an der Stelle, an der es vor fünf Monaten noch ein Leben gegeben hatte.
»Vergiss es«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Gizmo schnaubte, als wäre er genervt. »Hör zu, Gil«, sagte er verärgert. »Von mir aus geh raus und wirf dich Maurice in den Weg. Deine Entscheidung. Wenn du enden willst wie Rubio: bitte schön! Vielleicht wäre das ja genau das Richtige für dich, dann hättest du ganz deine Ruhe, wäre das nicht angenehm?«
Ich versuchte, die schneidende Ironie in seiner Stimme zu überhören. Das wirklich Witzige daran war, dass er mich erwischt hatte. Ich dachte manchmal tatsächlich darüber nach, wie es wäre, wenigstens für eine Stunde Rubios Freiheiten zu haben. Tauchte er auf der Straße auf, wurde er wie ein Unsichtbarer behandelt. Jeder ging ihm aus dem Weg – keiner griff ihn an. Ob aus Respekt oder Verachtung, hatte ich noch nicht
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