Schattenauge
herausgefunden. Ständig saß er am Fenster seines Zimmers und behielt die Straße im Blick, obwohl es nichts zu sehen gab. Irgendwann – nicht einmal Irves wusste etwas darüber – war sein Gebiet zur neutralen Zone geworden. Jeder durchquerte das Terrain schnell und vermied es, zu Rubio hochzuschauen, auch wenn Rubio seine Zone ganz sicher nicht mehr verteidigen konnte. Jemand wie wir ist im Rollstuhl schlichtweg nur nutzlos.
Meine Hände zitterten, als ich versuchte, in die Jeans zu steigen, ohne dabei umzufallen. Meine Hand, die um die Hose gekrampft war, wirkte durch den Schmutz dunkler denn je. Zwei Nägel waren abgebrochen. Unter den anderen waren Krusten. Ruß? Hoffentlich war es nur Ruß. Speichel sammelte sich in meinem Mund, nur mit Mühe konnte ich ein Würgen unterdrücken.
Ich erinnerte mich an Zoës weiße Haut. Mädchen aus Schnee. Sie ahnte nichts, sie lebte einfach. Und wusste nicht, dass ihr ganz normaler Kummer nichts gegen das war, was ihr in ihrer Stadt zustoßen konnte.
»Hör auf, für das Mädchen zu denken«, sagte Gizmo etwas freundlicher. »So funktioniert das nun mal nicht.«
Ich glaube, es war genau dieser Moment, in dem ich beschloss, dass der Dschungel mich kreuzweise konnte.
»Wie es funktioniert, entscheide ich«, erwiderte ich.
Gizmo runzelte missbilligend die Stirn, doch diesmal sparte er sich seine Belehrungen.
Ich fluchte, als ich mir die Jeans über die Hüften zog. Sie war weit genug, aber dennoch konnte ich nicht verhindern, dass das Reiben des Stoffes die Verletzung in Flammen setzte. Als mir Gizmo auch noch eines seiner grottenhässlichen grünen Poloshirts hinhielt, schnaubte ich. Meine schwarze Lederjacke war neu gewesen. Ich mochte mir nicht vorstellen, in welcher Gosse sie nun lag.
»Hast du kein anderes?«
Gizmo deutete auf den Fernsehbericht. »Fröhlichen St. Patrick’s Day!« Eine orangefarbene Pulverwolke bauschte sich im Wasser des Flusses, löste sich und verwandelte sich unter dem Applaus und dem Jubel der Leute am Ufer in ein fluoreszierendes Grün. »Perfekte Tarnung in der grün gekleideten Meute«, meinte Gizmo. »Und mit dem Gesicht gehst du heute ohnehin glatt als Ire durch«, setzte er grinsend hinzu.
Mürrisch nahm ich das Shirt entgegen und versuchte es mir über den Kopf zu ziehen, ohne dabei mein geschwollenes Gesicht zu streifen. Rippen geprellt, fügte ich der Liste hinzu. Höllischer Muskelkater in den Schultern.
Als ich wenig später mit umgeschlagenen Hosenbeinen über den Hinterhof in Richtung Straße humpelte, kam ich mir vor wie ein Clown. Ich wandte mich in Richtung Süden und achtete darauf, mich dicht im Sichtschatten der Häuser zu halten. Mir blieb auch nichts anderes übrig, denn ab und zu musste ich mich an der Wand abstützen. Vier angetrunkene Kerle mit grünen Hemden und albernen Kleeblatt-Hüten hielten mich für einen der Ihren und pfiffen mir hinterher.
Der Wind kam von der Flussseite und trug mir den Lärm der St.-Patrick’s-Parade zu, die sich vom Flussviertel aus in Richtung Hauptbahnhof bewegte. Dazu die Musik aus den Kneipen, irische Fiedeln und schnelle Bässe. Kaum auszuhalten. Nur weg vom Trubel! An der Haltestelle Kunstmuseum blieb ich stehen, schloss die Augen und orientierte mich. Es musste schon fast halb fünf Uhr sein. Um diese Zeit war es in dieser Gegend für mich sicher. Nur Nummer 7 (der glatzköpfige Verkäufer, der um die Ecke die Obdachlosenzeitung feilbot) konnte etwas ungemütlich werden. Und in meinem Zustand sollte ich mich auf kein Spielchen mehr einlassen. Nein, es war besser, gleich in neutrales Gebiet abzutauchen und mit der U-Bahn die fünf Stationen bis zu meinem Viertel zu fahren. Dumm nur, dass ich kein Geld hatte. Ohne viel Hoffnung steckte ich die Hand in die Hosentasche – und fand tatsächlich einen Geldschein darin. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gizmo ihn nicht nur zufällig in der Jeans vergessen, sondern extra für mich hineingesteckt hatte, stand wie immer 50:50.
Ich weiß nicht, wie viele Leute mich in der U-Bahn anstarrten. Im Funzellicht der Waggonbeleuchtung konnte ich mich im Spiegel der Scheibe sehen. Gizmo hatte Recht gehabt: Es gibt Spiegelbilder, auf die man verzichten kann. Ich stellte mir vor, was Ghaezel bei meinem Anblick sagen würde. Oder ob sie überhaupt in der Lage wäre zu verstehen, was mit mir – mit uns – geschehen war?
Meine Wohnung, wenn man sie so nennen konnte, lag hinter den Autohöfen, dort, wo die Zimmer billig sind und keiner einen
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