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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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klack bekam einen Hall. Und dann war ich wieder vor Zoës Haus.
    Es war nur eine Sequenz: die aufgehellte Nacht. Der Augenblick, in dem ich gegen die Wand geschleudert wurde und sah, wie meine Uhr wie in Zeitlupe davonflog. Fetzen der Lederjacke, die ich im Sprung von den Schultern streifte, bevor Maurice mich ein zweites Mal erwischte.
    »Die Kleinsten werden die Größten sein.« Das hatte Irves einmal im Scherz zu mir gesagt. Doch das hier war kein Scherz.
    Ich sah beide Gestalten: den kleinen, bulligen Mann mit den lächerlich dünnen Beinen und den Schatten, seine wahre Gestalt. Wahnsinn.
    Dreihundert , schätzte ich. Vielleicht sogar noch schwerer.
    In Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, verfolgte ich, wie meine Hand ihm über Schulter und Kiefer fuhr, die Finger zu Krallen gebogen. Es war also kein rußiges Fett unter meinen Nägeln. Das Hochhaus rutschte ins Bild, die Kräne, die geparkten Autos, und rechts – eine huschende Bewegung! Ich wirbelte herum und fühlte die Zähne, die meine Kniekehle streiften und sie nur deshalb nicht erwischten, weil ich mich instinktiv fallen ließ und abrollte. Es hatte Vorteile, kleiner und wendiger zu sein.
    Der Flashback verebbte so plötzlich, wie er gekommen war, und ließ mich keuchend und mit klappernden Zähnen zurück. Der Schock des Begreifens kam erst jetzt. Verdammt, die Kniekehle! Mir war nicht klar gewesen, wie viel Glück ich gehabt hatte. Kodex hin oder her: Dieser verfluchte Mistkerl hätte mir tatsächlich die Kniesehne durchgebissen, wenn ich ihm die Chance dazu gegeben hätte!
    »Brauchen Sie Hilfe?« Mein Kopf ruckte hoch. Das Klacken der Absätze war verstummt, die Frau stand am Eingang zum Hinterhof. Die Farbe ihrer leicht getönten Designersonnenbrille passte perfekt zu ihrem Haar. Es war glänzend braun, auf Kinnlänge geschnitten, strenger Mittelscheitel. Ein Hochglanzbild wie aus der Werbung. Dazu passte auch das garantiert teure Parfüm, das auf meiner Nasenschleimhaut brannte wie Feuer.
    Ich musste sie anstarren wie ein Wahnsinniger.
    »Si e … sind verletzt«, sagte sie beinahe verlegen, als müsste sie mir erklären, warum sie mich angesprochen hatte. Obwohl sie spätestens jetzt sehen musste, dass ich noch keine achtzehn war, siezte sie mich immer noch. Nun deutete sie auf mein Hosenbein. Ich schluckte und sah an mir hinunter. Einer der Kratzer blutete wieder.
    »Alles in Ordnung«, sagte ich heiser. Ich wandte mich ab und rammte den Schlüssel in das Türschloss. Ein Wunder, dass er nicht abbrach.
    Es ging einfacher, wenn ich Hände und Füße benutzte, um die Treppe hochzukriechen. Nach dem Parfüm die nächste Folter: Der Geruch von Zitrusputzmittel und altem Linoleum ätzte sich in meine Nase ein. Erst ganz oben wurde es besser. Meine Hände zitterten, als ich die Wohnungstür aufsperrte und in die Wohnung stolperte, wo mich der vertraute Geruch nach staubigem Holz, Taubenfedern und Papier umgab.
    Ich hatte das Fenster offen gelassen. Der Durchzug ließ die unzähligen Blätter, die ich an die Wände gepinnt hatte, rauschen. Ein mit Bleistift gezeichneter Plan der Stadt löste sich von der Wand und segelte auf den Boden. Vorsichtig schälte ich mich aus Gizmos Klamotten und ließ mich unter dem Fenster auf den verzogenen Dielen nieder. Sicherheit! Es tat gut, den kalten Frühlingswind auf dem Rücken zu spüren und die Augen zu schließen.
    Ich musste Zoë warnen. Aber ich war zu erschöpft, um jetzt etwas zu unternehmen. Ich musste schlafen. Es raschelte wieder. Vor mir auf dem Boden rutschte der Plan im Luftzug ein Stück in Richtung Tür. Schraffierte Zeitzonen, Skizzen und Schnittmengen der Reviere und an den Rand gekritzelt: die Steckbriefe. Bleistiftskizzen der Gesichter und daneben Namen, alle mit Nummern versehen. Bei vielen, deren Namen ich nicht kannte, waren es lediglich Skizzen und Nummern.
    Nummer 3: Der orientalisch wirkende Grauhaarige, der immer dieselben Bücher mit sich herumschleppt und trotz seines Alters so tut, als würde er studieren.
Nummer 8: Die Frau mit der karierten Artistenjacke, die beim Krankenhaus für ein paar Cent jongliert.
Nummer 11: Der Obdachlose mit dem langen, blonden Haar, der die Restaurantmeile durchstreift.
    Insgesamt vierzehn Leute waren es. Und unzählige Fragezeichen.
    Nummer 12: Maurice
Gefahr: 6?
Alter: 45–50?
Größe: ?
Wohnung: Nordteil?
Zeiten: Nachtaktiv. 23 bis ca. 3 Uhr ab Planetarium bis Neubaugebiet. Ab 3 Uhr Börsenviertel, oft am Fluss. Einzelgänger, mag

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