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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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einlässt. Wenn du dir die Alten anschaust: Hast du nicht den Eindruck, dass sie alle mal Leute waren und heute keine mehr sind? Weißt du, ob Maurice überhaupt noch wache Augenblicke hat? Vielleicht ist man am Ende nur noch ein Tier in einer menschlichen Hülle.«
    Irves lachte, was mich noch wütender machte. »Weißt du, das mag ich so an dir, French! Du bist nicht so stumpf wie der Rest. Du denkst nach und nennst die Dinge beim Namen. Nur Marionetten an den Fäden der Instinkte, ja? Spannender Gedanke, so habe ich es noch nie betrachtet. Dann wäre ein Mord an einem Müllfresser wie Nummer 11 also nicht schlimmer, als wenn man eine streunende Katze erschießt. Bestechend logisch.«
    »Das habe ich nicht gemeint!«
    »Gesetz des Dschungels, wie Giz sagen würde«, spann er ungerührt den Faden weiter. »Na ja, und seien wir doch mal ehrlich: Kodex hin oder her – keiner würde solche Typen wie Nummer 11 und Maurice vermissen, oder?«
    »Hör auf, Irves!«
    »Ist doch nur ein Gedankenspiel«, sagte er mit einem hinterhältigen Lächeln. »Du hast angefangen.« Wieder einmal waren wir bei dem Punkt angelangt, an dem es nichts mehr zu sagen gab, es sei denn, ich wollte, dass Irves mir jedes Wort im Mund umdrehte. Ein und derselbe Gedankengang führte bei uns immer in völlig unterschiedliche Richtungen. Schwarz und Weiß. Nun, immerhin hatte er mich in eine neue Richtung gebracht: Rubio. Wie alt mochte er sein? Achtzig? Jedenfalls war er der Einzige von den Alten, der noch eine Wohnung hatte. Vielleicht bedeutete das etwas. Vielleicht sollte ich den Bann, der auf ihm lag, ignorieren und mich näher heranwagen. Ich musste darüber nachdenken. Morgen. Wenn ich weniger zerschlagen sein würde.
    Irves wurde wieder ernst. »Du versuchst rauszufinden, wie die ganze Sache mit uns funktioniert, nicht wahr? Du suchst das Muster.« Er sah mich an und jetzt wirkten seine Augen unruhig. »Es muss ein System geben.«
    Ich nickte. »Schon möglich.«
    »Und?«
    »Ich bin dran, aber ich habe noch nicht viel gefunden. Wenn es einen Weg gäbe, sich zu erinner n …« Dann gäbe es vielleicht einen Weg, es zu stoppen.
    »Ein Switch bei vollem Bewusstsein?«, murmelte Irves fasziniert. Ich konnte sehen, dass er Feuer gefangen hatte, aber ich wusste nicht, ob es mir gefiel. »Nette Vorstellung«, sagte er leise. »Stell dir das mal vor: Alle Instinkte und Kräfte deines Schattens und dazu Bewusstsein und Intelligenz eines Menschen. Dann könnten Typen wie Maurice einpacken.«
    Als er meinen Gesichtsausdruck sah, zeigte er ein zähnefletschendes Lächeln. Irves, der Clown, der den Bösewicht aus James Bond gab. »Mach nicht so ein Gesicht, French «, flüsterte er mir zu. »Man wird doch von der Weltherrschaft träumen dürfen!« Während er aufstand, warf er einen kurzen Blick auf die Uhr. »Fast drei«, meinte er und streckte sich gähnend. »Entspann dich! Vor Maurice hat deine Kleine heute jedenfalls nichts mehr zu befürchten.«
    Ich sah ihm zu, wie er am Dachfirst entlanglief und dachabwärts zum Vorsprung an der Dachrinne tauchte. Von dort aus sprang er über den schmalen Spalt zwischen den Häusern auf das nächste Dach und kam so federnd und mühelos auf, dass ich mir für einen Moment einbildete, auch seinen Schatten wahrzunehmen.
    »Hey!«, rief ich ihm hinterher. »Du hast dir ihren Schülerausweis genau angesehen, stimmt’s?«
    Er verharrte halb geduckt, bereit zum nächsten Sprung, und zeigte mir wieder sein arrogantes Geistermann-Grinsen. »Zoë Valerian«, antwortete er ohne zu zögern. »Geboren am 10 . Mai 1994. Zehnte Klasse, Albert-Einstein-Schule.«
     
    Im ersten Augenblick war Zoë sicher, aus einem ihrer Fluchtträume erwacht zu sein, in ihrem Bett liegend, den starren Blick auf die leuchtenden Zeiger des Weckers gerichtet. Aber dazu passte nicht der Wind, der an ihren Haaren riss und ihre verschwitzte Stirn kühlte. Doch sie zitterte nicht vor Kälte am ganzen Körper, sondern weil das Blut durch ihre Adern pumpte, als hätte sie eben etwas Ungeheuerliches geleistet. Der Himmel mit den dahintreibenden Wolkenfetzen erschien ihr so hell, als wäre es schon beinahe Morgen. Himmel? , dachte Zoë verwundert. Wolken? Mühsam schluckte sie und versuchte sich zu erinnern: Die Flucht, das Knurren – all das war Wirklichkeit gewesen. Und sie … lag irgendwo draußen unter freiem Himmel. Jetzt schnappte sie erschrocken nach Luft. Ihre Hand krampfte sich zusammen, doch sie umschloss nicht mehr das Stück

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