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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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warum, aber sie war mir nicht besonders sympathisch. Ich blickte ihr nach, als sie an mir vorbeiging. Doch ihr Ziel war nicht die U-Bahn, sondern ein heruntergekommenes Café auf der anderen Straßenseite. Sie holte sich eine zerlesene Zeitschrift vom Tresen und setzte sich an einen Tisch am Fenster. Dann blickte sie auf die Uhr, aber nicht hastig, als wäre sie in Eile, sondern eher müde, als müsste sie überlegen, wie sie noch etwas Zeit vertrödeln könnte.
    Als ich mich wieder dem Haus zuwandte, entdeckte ich Rubio hinter dem spiegelnden Glas. Sein hageres Gesicht, die buschigen Brauen und das schüttere, zerzauste Haar, auf dem immerhin noch ein sandbrauner Farbhauch lag. Wie immer trug er auch heute ein weißes Hemd. Noch eine Hornbrille dazu, und er hätte in jedem Film die Rolle des verrückten Professors spielen können.
    Sein Blick schweifte über den Platz und sparte mich dabei auf diese typisch absichtlich-unabsichtliche Art aus. Ich wunderte mich, wie viel Mut es mich immer noch kostete, auf einen von uns zuzugehen. Nun, in rund neunzig Prozent der Fälle war es ja auch schiefgegangen. Und Rubio war zwar alt und lahm, aber man konnte nie wissen.
    Während ich mich humpelnd in Bewegung setzte, versuchte ich mir vorzustellen, dass die gebrechliche Gestalt da oben wirklich jemanden umgebracht hatte. Mit einem kribbelnden Unbehagen überschritt ich die unsichtbare Grenze zur Tabuzone seines Lebensraums.
    Die Eingangstür erinnerte an das Tor zu einem Hochsicherheitstrakt. Weiß gestrichenes Metall, doppeltes Sicherheitsschloss. Daneben Klingelschildchen, ebenfalls aus Metall. Vielleicht reichte die Gegensprechanlage fürs Erste, um die weiße Fahne zu schwenken.
    In den nächsten Minuten drückte ich mindestens zehn Mal auf den noch völlig neu aussehenden Knopf neben dem Schild »G. Rubio« . Ich konnte das Schrillen im Haus hören. Wie hielt er das nur aus? Vielleicht war er taub. Die Sprechanlage blieb jedenfalls stumm. Aber als ich das elfte Mal klingelte, brach das Schrillen abrupt ab, obwohl mein Finger noch auf den Knopf drückte. Offenbar hörte Rubio also doch noch gut genug und hatte einfach die Klingel abgeschaltet. »Na dann, alter Mann«, murmelte ich und zog den Zettel hervor, den ich heute Morgen geschrieben hatte. Ein paar Fragen, meine Handynummer und meine Mailadresse. Ich warf ihn in den Briefkasten und ging. Als ich den Lindenplatz überquerte, blickte ich noch einmal zurück. Rubio saß wieder am Fenster. Und er hatte tatsächlich eine altmodisch wirkende, klobige Kamera vor der Nase. Das Objektiv war direkt auf mich gerichtet. Sein Zeigefinger bewegte sich, als er das Foto schoss. Dann fiel der Vorhang wieder zurück.
    Die meisten Internetcafés in der Stadt verlangten einen Ausweis. Das am Hauptbahnhof war eine Ausnahme, außerdem hatte es fast rund um die Uhr geöffnet. Das aufdringliche Blau und die nach Plastik stinkenden Stühle waren zwar kaum zu ertragen, aber wenigstens konnte ich gut abgeschirmt in meiner Ecke sitzen. Und der Drucker funktionierte meistens. Hier war eigentlich das Gebiet von Nummer 3, aber um diese Zeit befand er sich auf dem Campus und starrte in ein Physikbuch von 1969, während er in Wirklichkeit auf Tauben lauerte.
    Ich holte meine Notizen heraus und legte sie neben die Tastatur. Die Bleistiftskizze war nicht sensationell, aber ich fand, ich hatte das hagere Gesicht gut getroffen. »G. Rubio«, gab ich in die Suchmaschine ein. Wie ich vermutet hatte: Falls er ein erwähnenswertes Leben gehabt hatte, dann war es wohl vor der Zeit des Internets gewesen. Wenn Rubio überhaupt sein richtiger Name war.
    »Zoë Valerian« brachte mehr Treffer. Sie hatte einen Streitschlichterkurs an ihrer Schule absolviert. Da stand sogar eine Kontakt-Mailadresse. Außerdem gehörte sie zur Sportmannschaft ihrer Schule. Ein Bild zeigte sie inmitten einer Volleyballmannschaft nach einem Sieg gegen eine andere Schule. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, Zoë lachend zu sehen. Ich wählte einen Ausschnitt und vergrößerte das Bild, bis ihr grob gepixeltes Gesicht den halben Bildschirm ausfüllte. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass sie graue Augen hatte. Ich klickte auf »Drucken«. Im Hintergrund lief nervtötend laut der Fernseher. Die Stimme der Nachrichtensprecherin mit dem S-Fehler übersteuerte leicht.
    Genervt holte ich die Silikonstöpsel aus der Jacke und schob sie mir in die Ohren. Dann suchte ich weiter nach dem, was Irves »das System« nannte.
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