Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
wann redet sie mit uns?«
    »Tut sie nicht. Aber auf ihre eigene, durchgeknallte Art erzählt sie es allen Leuten, die auf der Straße an ihr vorbeilaufen«, antwortete Irves. »In ihren Predigten vor der Börse nennt sie ihn manchmal ›Lahmbein Schädelfresser‹ und ›Kehlenzerfetzer‹.«
    »Ja, aber sie erzählt auch vom Ende der Welt«, gab ich zu bedenken. »Von der Apokalypse und von Bestien, die alle verschlingen werden. Kein Mensch nimmt das ernst.«
    Irves hob die Schultern. »Aber sicher ist dir auch schon aufgefallen, dass keiner von uns Rubio zu nahe kommt? Vielleicht aus gutem Grund?«
    Er lachte, als er mein Gesicht sah, und ich wusste wieder einmal nicht, ob er mich aufzog oder mir die Wahrheit sagte. Doch ich spürte sehr genau, dass sich hinter seiner lockeren, spöttischen Art eine ganz neue Art Interesse verbarg. Er wollte etwas von mir, sonst wäre er schon längst wieder weitergezogen. Manchmal war ich auch gut darin, die Frequenzen zu empfangen. Nun war ich es, der stumm blieb und wartete. Und ich lag mit meiner Vermutung richtig.
    »Warum ist dir das Mädchen eigentlich so wichtig?«, fragte er. »Was willst du beweisen, French?«
    Und leider traf er damit genau meinen wunden Punkt. 1:1 für ihn.
    »Ich will gar nichts beweisen. Ich will einfach, dass sie heil aus der Sache rauskommt«, murmelte ich.
    Ich hätte erwartet, dass er sich nun über mich lustig machen würde, aber irgendetwas in meinem Tonfall schien ihm zu signalisieren, wie ernst ich es meinte.
    »Na ja, ›heil‹ ist relativ«, meinte er. »Und jeder von uns hat mal als Läufer angefangen. Schmetterlinge sind nun mal Raupen, bevor sie aus dem Kokon kriechen. Bei den Massai müssen die jungen Männer über zehn Rinderrücken rennen, um einen Platz im Dorf zu bekommen, und einen Löwen töten, um zum Jäger zu werden. Bei uns ist es eben etwas verdrehter: Wir sind Beute, damit wir Jäger werden.«
    »Und manche von uns überleben es nicht«, erwiderte ich.
    Irves zuckte wieder mit den Schultern. »Du meinst den Läufer im letzten Jahr?«, meinte er nur trocken. »Unfall. Hat es nicht ganz geschafft und sprang in den Fluss. Konnte keiner ahnen, dass er nicht schwimmen konnte, oder?«
    »›Hat es nicht ganz geschafft‹«, wiederholte ich mit kaum verhohlenem Sarkasmus.
    Er sah mich so aufmerksam an, dass mir unbehaglich zumute wurde.
    »Weißt du, manchmal würde es mich wirklich interessieren, was mit dir passiert ist«, sagte er lauernd. »Was hast du beim ersten Switch angestellt, Killer? Vielleicht Nachbars Kinder gefressen?«
    Ich würde den Teufel tun und ihm antworten. Diese Schwingung spürte er sofort und hob die Hände. »Uh! Falsche Frage! Weißt du, was dein Problem ist? Du würdest am liebsten in einem Disney-Film leben. Singende Eichhörnchen, Harmonie und gute Feen. Du hast eine Scheißangst davor, das zu sein, was du nun mal bist.« Er grinste. »Dabei bist du gar nicht so harmlos – wer sich mit Shir Khan anlegt, muss lange Krallen haben. Vielleicht hättest du ihn sogar in die Flucht geschlagen? Du hättest dich viel besser wehren können, wenn du dich ganz darauf eingelassen hättest.« Seine Augen hatten diesen faszinierten Glanz bekommen, der mir unheimlich war. »Mach endlich was aus deinen Fähigkeiten. Es ist eine Gabe, kein Fluch, kapierst du das nicht?«
    Für Irves war das eine lange Ansprache. Aber heute ließ ich mich nicht provozieren.
    »Ich weiß ja nicht, wie dein Leben bis Punkt X verlief«, erwiderte ich frostig. »Aber ich kann dir genau sagen, wie deine Zukunft aussieht. Warte noch ein paar Jahre und du wirst nicht mehr durch die Clubs streifen. Du wirst nämlich das Interesse an der Musik verlieren. Du wirst vergessen, dich zu waschen, und verlernen, mit Leuten zu reden. Du wirst deine Wohnung aufgeben und auf Parkbänken rumlungern. Und schließlich wirst du zu einem elenden Müllfresser wie Nummer 11 mutieren und in den Tonnen hinter den Restaurants nach abgefressenen Hühnerbeinen wühlen. Oder wie Barb von Tauben und Hunden leben. Und du wirst es völlig in Ordnung finden.«
    »Ich werde ganz sicher kein Hundefresser«, erwiderte Irves ruhig.
    »Vielleicht hat Barb das früher auch gesagt«, ereiferte ich mich. »Und sieh dir Gizmo an – er rutscht schon ab. Es dauert nicht mehr lange, da wird auch er nur noch an den Fäden seiner Instinkte hängen. Und das Schlimmste ist: Es wird ihm ebenfalls nichts mehr ausmachen. Vielleicht nehmen die Blackouts zu, je mehr man sich darauf

Weitere Kostenlose Bücher