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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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erst bei einem flüchtigen Seitenblick bemerkte. Erschrocken prallte sie zurück. Die Nagelbürste landete mit einem Klappern im Spülbecken.
    »Himmel Löwchen, hast du mich erschreckt!«, stieß Zoë hervor. »Was ist?«
    Wie ein kleiner Geist mit verschlafenen Augen stand Leon in der Tür. »Durst«, murmelte er.
    Zoë schnappte immer noch nach Luft. »Geh ins Bett, ich bringe dir was.«
    Doch Leon starrte sie immer noch mit gerunzelter Stirn an. »Der Räuber war da«, sagte er leise. »Er hat durchs Fenster geguckt.«
    Zoë seufzte und ging in die Hocke, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. Dabei fiel ihr Blick auf die Uhr im Flur. Jetzt wurde ihr noch einmal heiß vor Schreck. Halb vier schon? War ich so lange auf dem Dach?
    So ruhig wie möglich sagte sie: »Das hast du geträumt, Löwe.«
    Voller Ernst schüttelte er langsam den Kopf. Jetzt erst bemerkte sie, dass er blass war und verweinte Augen hatte. »Du warst weg«, sagte er dann.
    Zoë schluckte. Das schlechte Gewissen drückte wie eine Zementplatte auf ihre Brust. Bravo , dachte sie. Du rennst raus wie eine Bekloppte, bringst dich in Gefahr und lässt auch noch den Kleinen im Stich. Von ihren nassen Händen tropften Wasser und schmutziger Seifenschaum. Seltsamerweise war sie in diesem Moment nicht nur auf sich selbst wütend, sondern vor allem auf David und Ellen. Wegen dieser Geschichte flippte sie völlig aus. Es reicht , dachte sie. Es ist vorbei. Schluss damit, endgültig!
    »Ich war nur kurz draußen und habe den blöden Räuber verjagt«, sagte sie beruhigend. »Der wird sich nie, nie wieder auch nur in unsere Nähe wagen.«
    Und das Verrückteste an dieser Nacht war, dass es sich seltsamerweise nicht nach einer Lüge anhörte.
     

Streifgebiete
    Rubio sollte also einen erledigt haben. Wann? Wie lange saß er schon im Rollstuhl? Oder hatte das eine mit dem anderen nichts zu tun? Die Frau an der Kasse der Tankstelle um die Ecke hatte mir zumindest sagen können, dass sie schon seit acht Jahren dort arbeitete und Rubio auch so lange schon vom Sehen kannte. »Komischer alter Mann«, sagte sie. »Schaut sich den ganzen Tag die U-Bahn-Haltestelle an. Als gäbe es da irgendwas zu sehen.«
    Sie hatte Recht. Es gab nichts zu sehen. Noch nicht mal Nummer 11 streifte auf der Suche nach Essbarem hier herum, obwohl es genug Restaurants gab und das Gebiet neutrale Zone war. An diesem Sonntagmorgen führten nur ein paar wirklich alte Rentner ihre nach Hundejahren noch älteren Kläffer aus. Einige der Tiere wurden nervös, sobald sie mich witterten, zogen den Schwanz ein und stemmten sich winselnd gegen die Leine. Gizmo machte sich bei solchen Gelegenheiten gern einen Spaß daraus, wie zufällig direkt auf sie zuzugehen und sie damit in Panik zu versetzen.
    Es nieselte, aber die Kühle tat meinem Gesicht gut. Und es störte mich auch nicht, dass meine uralte Jeansjacke nass wurde. Ich lehnte einfach am Gatter der U-Bahn-Haltestelle neben dem Schild und starrte zu Rubios Fenster im zweiten Stock hoch. Gizmo hatte mir erzählt, dass Rubio manchmal aus seinem Loch kam, zur Tankstelle um die Ecke rollte und sich ein Sixpack Bier holte. Mit den Dosen auf dem Schoß kehrte er dann in seine Wohnung zurück, und wenn er dabei einen von uns traf, fuhr er an ihm vorbei, als wäre derjenige Luft – oder als würde er uns gar nicht mehr erkennen. Gizmo hielt Rubio für senil. Vielleicht war das ein Ansatz? Musste man den Schatten vergessen, um ihn loszuwerden? Oder hatte Rubio nur den einen Käfig mit dem anderen vertauscht – das Vergessen durch seinen Schatten gegen das Vergessen der Demenz?
    Heute erschien Rubio nicht am Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen. Aber hinter den Vorhängen erahnte ich Bewegungen. Wenn ich genau hinhörte, glaubte ich hinter dem Fensterglas ein Schleifen zu hören, so als würde jemand in der Wohnung Möbel verrücken. Nach einer Weile wurde es so ruhig, dass ich nervös wurde.
    Der Platz vor dem Haus war leer, nur eine Frau kam aus der Richtung von Rubios Wohnhaus auf mich zu, ohne mich zu beachten. Sie war sicher noch keine vierzig. Aber auf eine erschöpfte Art wirkte sie älter. Sie trug einen unförmigen, blaugrauen Wollmantel, der zur Farbe ihrer Augen passte, hatte blondes, hochgestecktes Haar und weiche Gesichtszüge. Ihr Gesicht war das eines Mädchens, das nach einem Dornröschenschlaf im Körper einer müden, erwachsenen Frau aufgewacht ist und sich damit abgefunden hat, ohne es zu verstehen. Ich weiß nicht

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