Schattenauge
Finger, ließ eines nach dem anderen die Gelenke knacken.
Das war’s , dachte ich nach einer Weile. Ende des Gesprächs. Das große Schweigen. Wieder mal. Ich wollte schon aufstehen und gehen, als Irves mich überraschte.
»Warte mal«, sagte er. Dann, nach einer Ewigkeit, fügte er hinzu: »Es heißt, Rubio hätte einmal einen erledigt.«
Zoës Atem hallte in ihren Ohren, als sie um die Ecke bog und dabei auf einer Spur von verstreutem Kies ausrutschte. Sie fing sich und kam mit einem Seitwärtssprung wieder ins Gleichgewicht. Irgendwo hinter ihr waren Schritte, aber sie widerstand der Versuchung, sich umzusehen. Sie konnte sich auch so denken, dass der Kerl mit der Halbglatze sich einbildete, ihr Angst machen zu können. Er glaubte doch nicht im Ernst, dass er in der Lage war, sie einzuholen? Verärgert beschleunigte sie wieder. Vor ihr lag die Straße an der Baugrube. Irgendwann im nächsten Jahr würde hier ein neuer Wohnblock stehen, aber im Moment war es nur eine Ansammlung von Schotterbergen hinter dem Zaun. Kies knirschte unter Zoës Sohlen, während sie am Zaun entlangrannte. Am Ende der Straße sah sie bereits die helle Fassade ihres Wohnhauses. Leon war nicht aufgewacht, stellte sie bei einem prüfenden Blick auf das oberste Stockwerk fest. Die Fenster waren dunkel. Nur noch zweihundert Meter trennten sie von ihrem Zuhause. Endspurt!
Irgendwo hinter ihr fiel eine Mülltonne mit einem Poltern um. Zoë zuckte leicht zusammen. Schau genauer hin, du Idiot! , dachte sie grimmig. Sie stellte sich vor, wie der Mann hinter ihr herrannte, krebsrot im Gesicht und nach Luft schnappend. Nach ein paar Metern warf sie einen kurzen Blick über die Schulter, aber den Kerl konnte sie nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte sie sich nur eingebildet, dass er sie verfolgte? Und dennoch hörte sie etwas, das Schritten ähnelte – und auch wieder nicht. Als würde jemand mehr spür- als hörbar auf Socken in seltsam unregelmäßigen Sätzen rennen.
Die Folie, die über ein Gerät neben dem Zaun der Baustelle gebreitet war, raschelte plötzlich, als würde etwas sie streifen. Jetzt machte ihr Herz einen Satz. Reflexartig sprang sie vom Gehsteig und rannte mitten auf der Straße weiter. Bisher hatte sie keine Angst gehabt, jetzt aber ließ doch ein Anflug von Unbehagen sie unsicher werden. Der Mann kann es nicht sein , beruhigte sie sich selbst.
Jetzt hörte sie eine Art Schnaufen. Vielleicht streunte ein Hund herum? Sie erinnerte sich daran, dass einer der beiden riesigen Kampfhundmischlinge, die dem Kioskbetreiber gehörten, hin und wieder ausbüxte. Einmal hatte er sie auf der Straße angeknurrt, als sie mit Leon zum Spielplatz ging. Jetzt bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. Ein so großer Hund konnte sie auf jeden Fall einholen. Und während sie noch versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was sie tun könnte, falls er sie als Beute betrachten sollte, huschte links in ihrem Augenwinkel etwas Dunkles, Längliches zwischen zwei geparkten Autos vorbei. Zoë schrie auf. Dann bestand sie nur noch aus Reflexen: Sie schlug einen Haken und sprang mit einem gewaltigen Satz über eine Absperrung am Rand der Straße. Ihre Jacke blieb an einer Absperrbake hängen. Es gab einen Ruck, der sie zum Straucheln brachte, dann polterte ein rot-weißes Brett mit Getöse zu Boden. Ohne nachzudenken, streifte Zoë die in der Bake verhakte Jacke ab. Und während sie nach einem abgebrochenen Stück Holz von der Baustelle griff, um wenigstens eine Waffe zu haben, jagte ihr ein Laut wie ein Knurren einen elektrischen Schauer über das Rückgrat. Sie spürte die eisige Nachtluft an ihrer Schulter. Und dann einen Stoß heißer Atemluft.
Kälte machte mir schon seit einer Weile nicht mehr viel aus, aber jetzt fröstelte ich. »Wen soll Rubio erledigt haben?«
Irves zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Muss vor unserer Zeit gewesen sein.«
»Und wer hat es dir erzählt?«
»Niemand. Aber unsere Penner-Kassandra redet viel, wenn sie vor der Börse ihre bekritzelten Pappschilder hochhält. Hast du schon mal zugehört, was sie vom Stapel lässt? Wenn jemand sie ernst nehmen würde, dann wüsste er schon so ziemlich alles über uns.« Es klang verärgert.
Ich dachte an die Obdachlose mit dem wirren roten Haar. Und daran, wie sie Zoë von ihrer Parkbank aus hinterhergeschaut hatte. Unbehaglich streckte ich mein Bein aus, um es zu entlasten.
»Barb hat dir also gesteckt, dass Rubio ein Killer ist?«, fragte ich. »Seit
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