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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Allerdings war er da schon Expolizist. Und in der Stadt hat man mich dafür sogar als Helden gefeiert. Verrückt, was? Er hieß Pablo. Er war einer von uns, ein junger Kerl, der jüngste Mann bei der Kriminalpolizei. Hatte eine steile Karriere vor sich. Er setzte sein Gespür ein und hatte eine unglaublich hohe Aufklärungsrate. Und selbstverständlich entwischte ihm keiner auf der Flucht. Aber man weiß ja, wie es läuft. Nicht immer werden die Schuldigen angemessen bestraft. Manche, die er aufgespürt und überführt hatte, leisteten sich einen Spitzenanwalt und kamen mit Beziehungen und Geld frei. Hast du vom Waterfield-Mord gehört? Große Sache Anfang der Neunziger. Ein Politiker, der seine ehemalige Geliebte erstochen hat. Kam aus Mangel an Beweisen frei. Man munkelte auch, einige Zeugen hätten sich bestechen lassen. Das waren die Fälle, die Pablo bitter machten. Und eines Tages kam er auf die schöne Idee, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. Erst waren es nur die Kriminellen selbst – Waterfield machte den Anfang. Es sah aus wie ein Unfall. Wir waren uns anfangs selbst nicht sicher, ob wirklich einer von uns dahintersteckte. Tja, und dann tötete er die beiden Zeugen und den korrupten Richter und fing an, die Stadt aufzumischen. Da siehst du es: Für ihn bedeutete Töten Gerechtigkeit um jeden Preis. Selbst bei der Polizei räumte er auf. Und da kamen sie ihm auf die Spur. Daraufhin tauchte er unter, aber die Fahndung lief. Und auch wir versuchten ihn zu stellen, aber er war schlau und hatte längst Blut geleckt. Von diesem Zeitpunkt an kämpfte er gegen alle – auch gegen uns. Er kannte die Stadt besser als wir alle und konnte sich regelrecht unsichtbar machen. Das kostete drei von uns das Leben.«
    »Ihr wolltet ihn gemeinsam stellen?«, fragte ich fassungslos. »Das heißt, ihr wart … eine Gemeinschaft?«
    »Damals noch. Ja. Keine Reviere. Nur die Stadt für alle.«
    Keine Reviere? Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr.
    »Aber der Kodex sagt: ›Jeder für sich, keiner für alle‹«, wandte ich sofort ein. »›Wir weichen oder nehmen uns den Rau m …‹«
    »Es sind nur Worte«, sagte Rubio. »Der Urkodex bestand nur aus dem ersten Satz. Und nur der ist in Stein gemeißelt. ›Wir sind Wächter und wir töten einander nicht.‹ Punkt. Die anderen Gesetze ergeben sich aus der Geschichte. Sie schafft neue Gesetze, sie formt sie um und schleift sie zurecht wie Kiesel im Fluss.«
    »Das verstehe ich nicht, was meinst du damit?«
    »Nimm zum Beispiel das Gesetz, nach dem wir unsere Existenz um jeden Preis geheim halten müssen. Es stammt wohl aus dem sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert. Kennst du dich mit europäischer Geschichte aus? Wahrscheinlich nicht, Straßenjunge. Während der Zeit der Hexenverfolgung wurde erzählt, dass die Hexen auf katzenartigen Monstern zu ihren Versammlungen ritten. Und dass Hexen sich in Katzen verwandelten und umgekehrt. Sie haben damals viele von uns auf die Scheiterhaufen geschleppt – und einige harmlose Katzen dazu. Nun, es ist nur logisch, dass wir uns seitdem verbergen. Aber alles in allem sind wir nicht so gefangen, wie du glaubst.«
    Selten war ich so erschüttert gewesen. Wenn es stimmte, was Rubio da erzählte, würde das bedeuten, dass nichts von dem stimmte, was ich für mein neues Leben hielt. Sollte es tatsächlich möglich sein, wie ein Mensch zu leben? Keine Reviere und kein Dschungelgesetz?
    »Warum hast du den ersten Satz des Kodexes verraten?«, wollte ich wissen.
    Die Pause dauerte lange. Mir war, als würde Rubio mit geschlossenen Augen und ausgefahrenen Antennen lauschen.
    »Weil ich sah, wie Pablo einen Läufer tötete«, erklärte er nach einer Weile. »Einen Jungen, der noch nicht wusste, dass er zu uns gehörte. Pablo kannte ihn noch aus der Zeit bei der Polizei – der Junge war ein Ladendieb, den er erwischt hatte. Das erfuhr ich später, nachdem der Junge identifiziert worden war. Pablo richtete über ihn und machte kurzen Prozess. Und er tat es überlegt, kaltblütig. Geplant. Ich kam zu spät, um zu helfen.« Er räusperte sich. »Wir dürfen nicht töten«, fuhr er fort. »Aber damals veränderte sich etwas in mir. Und schließlich habe ich die Gemeinschaft und die Stadt von ihm befreit. In vollem Bewusstsein. Um die Gemeinschaft zu schützen. Und all das, wofür wir standen und heute noch stehen sollten.«
    »Also doch«, sagte ich leise. »Es gibt kein Verbrechen ohne Strafe.«
    Wieder eine Pause. »Komm raus aus der

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