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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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nicht nur die Menschen, du siehst … auch ihre Schatten Und du erinnerst dich!«
    »Nicht die Schatten allein«, sagte er trocken. »Sie sind nicht von uns getrennt, auch wenn du das glaubst. Ich sehe die Panthera. Uns.«
    Bevor er mir die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, rammte ich die Schuhspitze zwischen Tür und Türstock. »Aber wie ist das möglich?«
    »Jeder von uns hat die Fähigkeit. Es ist nur eine Sache der Entscheidung«, gab er ungeduldig zurück. »Und eine des Mutes. Keiner von den anderen hatte ihn. Keiner! Nur Barbara Villier. Und wahrscheinlich war sie die Letzte. Ihr seid alle niemals ganz über die Brücke gegangen. Nur halb. Ihr seid weder Schmetterlinge noch Raupen. Ihr seid Monster, Raupen mit einem Flügel. Und wenn ihr fliegen wollt, dann dreht ihr euch um euch selbst. Ja, ihr seid Egoisten, die sich um sich selbst drehen.«
    »Der einzige Egoist bist du!«, schrie ich und schlug gegen die Tür. »Du hockst in deiner Höhle und kaust auf deinen Geheimnissen herum. Sag mir, was du weißt!«
    Rubio lächelte. »Und wofür, Gil?«, fragte er trocken. »Für wen? Ich bin einmal für euch durch die Angst gegangen und habe das Dunkel vertrieben. Ja, ich sehe! Und ich erinnere mich an jede verdammte Sekunde meiner Existenz als Panthera. Ich bin nicht im Dunkel der verlorenen Erinnerung gefangen. Ich bin Rubio – und auch Mahes oder Panthera leo . In einer Person, jederzeit. Ohne Spaltung. Und was hat es gebracht? Sind die anderen meinem Beispiel gefolgt? Im Gegenteil. Gefürchtet und verteufelt haben sie mich. Sie ließen die Gemeinschaft zerfallen, ergaben sich den Instinkten und zerhackten die Stadt in Reviere, setzten sich selbst Grenzen. Und was sind wir als Einzelgänger? Weniger als nichts, denn wir sind keine Tiere. Und wir leben nicht in der Wildnis. Wir dürfen den menschlichen Teil in uns nicht verraten – und Menschen leben nun mal in Gemeinschaften und stehen füreinander ein.« Er seufzte tief und hustete. »Es gibt keine Geheimnisse, Gil«, schloss er. »Keine Verschwörung, keinen Fluch, keine Strafe oder was auch immer du dahinter vermutest. Es gibt nur Leute, die zu blind und zu dumm sind, die Wahrheit zu sehen. Lies die Mythen! Sie sind unser Geschichtsbuch, die Symbole sind die Buchstaben. Gebrauche deinen Verstand, und dann jag dein Herz durch die Hölle, wenn du dich traust, und verdiene dir den zweiten Flügel. Aber so viel Mut hast du ja nicht.« Er rollte gerade so weit zurück, dass ich ihn auch mit ausgestrecktem Arm nicht zu fassen bekommen hätte, und zielte in aller Ruhe auf meinen Fuß im Türspalt. Es beruhigte mich nicht zu sehen, dass seine Hand vor Anstrengung leicht zitterte. »Aber weißt du was? Wenn du unbedingt ein Geheimnis erfahren willst, verrate ich dir eines«, sagte er leise. Sein Finger glitt zum Abzug. »Es wird sehr, sehr wehtun!«
    Ich hatte keine Wahl. Trotzdem ließ ich mir Zeit, bevor ich zähneknirschend und mit klopfendem Herzen zurücktrat.
    »Du lügst, wenn du sagst, dass du nicht weißt, was in der Stadt vor sich geht«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du fürchtest dich, du hast Todesangst, nicht wahr? Machst du deshalb Fotos? Vor wem hast du Angst?«
    »Vielleicht vor Leuten wie dir«, erwiderte er ernst. »Und die Fotos – tja, Bilder sind hübsch. Und sie lügen nie.« Er musterte mich nachdenklich, aber ich war zu stolz, ihn zu fragen, was er vor sich sah.
    »Such dir irgendwo ein nettes Plätzchen, Raupe mit einem Flügel«, sagte er verächtlich. »Mach deine kleinen Katzen-Überlegenheitstricks und stirb glücklich als Einäugiger unter Blinden.«
    Mit diesen Worten schlug er die Tür zu. »Und warum zum Teufel hast du mich ins Haus gelassen, wenn du mir nichts sagen willst?«, brüllte ich.
    Natürlich bekam ich keine Antwort. Doch als ich auf die Straße trat, meldete mein Handy eine SMS: WARUM WOHL, EINSTEIN? UM DICH VON DER STRASSE ZU HOLEN
     

Die Brücke
    Zoë hatte sich dabei ertappt, wie sie alle zwanzig Minuten nervös auf die Uhr sah. Diese Angewohnheit hatte sie erst traurig gestimmt, schließlich aber hatte sie die Armbanduhr abgenommen und entschlossen in der Tasche versenkt. Es tat unendlich gut, einfach durch die Stadt zu laufen, umflossen von der Musik aus den Ohrhörern. Weiße Zeit, mitten am Tag! Erst hatte sie den Weg zu Paula eingeschlagen, dann aber machte sie sich auf den Weg zur Südstadt. Heute nahm sie nicht die U-Bahn. Noch nie hatte sie die Stadt so bewusst

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