Schattenauge
wahrgenommen. Sie sah nach oben, betrachtete die Fassaden, die Gesichter hinter den Fenstern und ließ sich einfach im Strom der Menschen treiben. Spätnachmittag, fast schon Abend. Berufsverkehr, alle hatten es eilig, auch die Fußgänger waren ungeduldig und stauten sich in großen Trauben an den Ampeln. Die Hektik der Leute passte zu Zoës eigener Unruhe. Es war wieder so weit: Zwischen betäubend intensivem Haarspray, Parfüm und durchgelaufenen Schuhen nahm sie sogar den schwachen Geruch des Flusses wahr, Teer von einer Baustelle, aber auch die Facetten von neuem, glatten Putz an renovierten Fassaden. Sogar der Geruch von verschüttetem Pommesfett vor einer geschlossenen Imbissbude, der sich auf eigentümliche Art mit den Ausdünstungen des Bodens verbunden hatte, wurde zu einer Wolke von Duftstoffen, die sie fast schmecken konnte. Es machte ihr mehr Sorgen denn je – gerade jetzt, mit der Aussicht, in die Trainingsgruppe aufgenommen zu werden. In diesem Augenblick war sie unendlich froh, ihrer Mutter nichts von ihrem Blackout und den seltsamen Anfällen erzählt zu haben.
Nach einer Stunde kam der Campus in Sicht: Die Universität der Stadt, die Mensa, die Studentenwohnheime. Eine Ansammlung von weißen Hochhäusern, die wie ein modernes Stonehenge mehrere Sportplätze und Grünflächen einfassten. Zoë ging an einer Gruppe von Studenten vorbei und folgte dem Ton einer Schiedsrichter-Trillerpfeife, die sie trotz der Ohrhörer leise wahrnahm. Als sie das Sportfeld betrat, überschwemmte die Begeisterung sie so jäh, dass sie die Musik, die durch ihren Kopf pulste, wie einen bunten Rausch wahrnahm. Im Vergleich zum Sportplatz ihrer Schule glich das Gelände hier einem Stadion. Zwei Volleyballmannschaften spielten gerade ein Turnier. Zoë setzte sich auf die Bank am Rand des Spielfelds und sah zu.
Die Zeit begann im Takt der Musik zu fließen. Die Volleyballmannschaften lieferten sich eine Stummfilmschlacht und schüttelten sich nach eineinhalb Stunden die Hände. Studenten kamen zum Gruppentraining und auch ein paar Einzelkämpfer machten ihre Konditionsübungen. Lichter gingen an, als es am Abend dämmrig wurde, und immer noch trainierten zwei Studentinnen verbissen Runde um Runde. Zoë lief wie in Gedankentrance mit. Sie sah sich selbst über die Bahn fliegen und weiterlaufen. Sie sah sich in zwei Jahren, Schulabschluss. Ein gepackter Koffer, die Laufschuhe im Gepäck. Ihr Zimmer im Studentenwohnheim, ihr eigenes Ziel, Freiheit. Ohne die leiseste Erinnerung an David, ohne die Enge und die komplizierten Rituale des Zusammenlebens mit Leon und ihrer Mutter.
Sie schaltete die Musik aus und hörte: das Atmen der Läuferinnen, die Schritte auf dem federnden Boden – und, unangenehm laut, das Piepsen des Handys, das sich über den fast leeren Akku beschwerte. Hastig holte sie das Handy hervor und sah auf die Uhr im Display. Schon halb neun.
Zu früh, um nach Hause zu gehen. Zu spät, um noch Paula anzurufen und ins Kino zu gehen. Aber nicht spät genug für ein paar Stunden zum Nachdenken und zum Vergessen. Sie sah sich um und überlegte. Welcher Club war hier in der Nähe?
Zu Hause war nur der Anrufbeantworter dran. »Mama, ich bin’s! Mein Handy ist gleich leer. Wenn du da bist, geh ran!« Sie war sicher, dass ihre Mutter zuhörte. Aber sie hob nicht ab. »Ich wollte dir nur sagen, dass es heute spät wird. Warte nicht auf mich. Und mein Handy ist leer, ich bin also nicht erreichbar.« Spätestens jetzt hätte sie drangehen müssen. Nun, offenbar war sie wirklich nicht da. Zoë wollte schon auflegen, als ihr der Mord wieder einfiel. »Ach, und mach dir keine Sorgen«, setzte sie sicherheitshalber hinzu. »Ich … bin in der Gruppe unterwegs. Und ich lasse mich später heimfahren – oder ich nehme ein Taxi, ich habe genug Geld dafür mitgenommen.«
Hoffentlich hört mir keiner zu , dachte sie, während sie auflegte. Paula käme nie auf die Idee, ihrer Mutter Beruhigungsnachrichten auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Sie warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf den Sportplatz und stand auf. Irves war wieder nicht zu erreichen. Im Laufen tippte Zoë ihre SMS in ihr piepsendes Handy ein.
Club Cinema im Alten Schlachthof, 2 1 Uhr. Gruß, Z.
Das Handy meldete sich ein letztes Mal, als Zoë auf Senden drückte, dann wurde das Display dunkel. Am liebsten wäre sie gerannt, aber sie hatte keine Lust, völlig verschwitzt anzukommen. Nun, in einer halben Stunde müsste sie es zu Fuß locker
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