Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
Wolken, was mir Gelegenheit gab, einen Blick auf Rubio hinter seinem Glasspiegel zu erhaschen. Sein Haar war wirrer denn je und die Schatten unter seinen Augen so dunkel, als hätte er seit gestern nicht geschlafen. Das Handy surrte in meiner Tasche und ich holte es hervor. Na also! Rubio besaß nicht nur ein Handy, er wusste sogar, wie man eine SMS verfasste. Auch wenn die Höflichkeit zu wünschen übrig ließ: RUNTER MIT DEM SCHILD!
    Ich hob den Blick und schüttelte den Kopf. Selbst über die Entfernung konnte ich das zornige Funkeln in seinen Augen sehen. Aber wieder kam es mir so vor, als würde er fast durch mich hindurchsehen. Ich wählte Rubios Nummer und konnte sehen, wie er sein Telefon ans Ohr drückte.
    »Bist du wahnsinnig?«, bellte er mir ins Ohr. »Verschwinde! Sofort!«
    »Nicht bevor du mit mir gesprochen hast. Ich habe Julian getroffen. Er erinnert sich gut an dich. Und an den Poliziste n …«
    Weiter kam ich nicht. Rubio legte auf und bedeutete mir hektisch fuchtelnd, dass ich … zum Haus kommen sollte! Alles hatte ich erwartet, nur das nicht. Im selben Moment ertönte schon das Summen des Türöffners.
    Ich raffte die Schilder an mich und beeilte mich. Sesam, öffne dich. Die Stahltür öffnete sich unter dem Druck meiner Hand erstaunlich leicht und fiel donnernd hinter mir ins Schloss. Als ich mich bewegte, sprang grelles Leuchtstofflicht an und zeigte mir eine frisch polierte Steintreppe und eine Aufzugtür in behindertengerechter Breite. Ich zögerte. Vielleicht war es keine gute Idee, da hochzugehen. Vielleicht erwartete er mich schon mit der Waffe, vielleicht würde er mich einfach umlegen und seine Armer-alter-Mann-wurde-überfallen-Nummer abziehen. Vorsichtshalber schickte ich den Aufzug alleine in den zweiten Stock und nahm die Treppe.
    Seine Tür war verschlossen, und als ich seine Handynummer wählte, meldete die Ansage, dass der Anrufer nicht erreichbar war.
    »Rubio?«, rief ich. Keine Antwort. Ich schob mich seitlich an die Tür heran. Kein Türspion vorhanden. Und auch keine Klingel. Sicherheitshalber stellte ich mich neben die Tür und streckte nur den Arm zum Klopfen zur Seite aus. Wie in einem schlechten Film, dachte ich.
    Ich klopfte ungefähr fünfzigmal, dann begann ich mit der Faust zu hämmern. Die Tür öffnete sich mit einem Ruck. Ungefähr zehn Zentimeter. Beeindruckend: An Rubios Tür war nicht nur eine Sperrkette. Er hatte gleich drei davon. Und jede so dick und stabil, als müssten sie die Tür gegen einen Auto-Crash absichern. Zwischen den unteren zwei sah ich den dunklen Glanz des frisch eingeölten Revolvers. Ich sprang sofort außer Reichweite. Wollte er mich erwischen, würde er schon rauskommen müssen.
    »Dich wird man wohl überhaupt nicht los«, knurrte Rubio. »Du pokerst ganz schön hoch, Junge.«
    Ich hatte einen zornigen Rubio erwartet, aber er klang nur erschöpft.
    »Ich habe eben auch nicht viel zu verlieren«, erwiderte ich. »Julian hat mir so einiges erzählt.«
    »So?«, kam die müde Antwort aus den Tiefen des Türspalts. »Du hast einen verständlichen Satz aus ihm rausgebracht? Hut ab! Und jetzt glaubst du, dass du mein Richter bist, du Großmaul?«
    »Ich will nur die Wahrheit wissen. Julian hat mir erzählt, dass du einen Polizisten umgebracht hast. Den ›Henker‹ hat er dich genannt. Und den ›Seher‹. Und er sagte auch, der Polizist habe gegen deinen Kodex verstoßen. Heißt das, der Kodex stammt von dir?«
    Seine Verblüffung war mehr als spürbar. Es raschelte, als würde er sich zurechtsetzen.
    »Julian war ein guter Schauspieler, aber ansonsten war und ist er ein Hohlkopf«, murmelte er nach einer Weile. »Ich habe den Kodex ganz bestimmt nicht erfunden. Er ergibt sich aus unserer Geschichte. Ich war nur der Erste, der ihn aufgeschrieben hat.«
    »Was bedeutet das?«
    Metall klickte gegen Metall. Offenbar war er mit dem Revolver gegen den Rollstuhl gestoßen. Hatte er die Waffe gesenkt? Als er weitersprach, klang er jedenfalls wirklich niedergeschlagen. »Es hat viele Bedeutungen«, sagte er kaum hörbar. »Und manchmal für jeden eine andere.«
    Mein Herz schlug inzwischen bis zum Hals. »Wie kann eine so eindeutige Regel wie ›Du sollst nicht töten‹ für jeden eine andere Bedeutung haben?«, fragte ich. Ich hoffte, er würde das Zittern in meiner Stimme nicht bemerken.
    Rubio seufzte. »Es gibt immer mehrere Wahrheiten. Du willst also wissen, ob die Gerüchte stimmen? Aber ja! Natürlich. Ich habe den Kerl umgebracht.

Weitere Kostenlose Bücher