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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Deckung, Feigling, ich kann dich nicht sehen«, sagte er heiser. Ich zögerte, doch dann trat ich vor die Tür. Im Türspalt sah ich nur sein rechtes Auge und die Mündung der Waffe.
    »Wir hielten ein Tribunal ab«, sagte er. »Ich wurde ausgewählt, um Pablo zur Vernunft zu bringen. Damals arbeitete ich als Arzt in der Psychiatrie im städtischen Krankenhaus. Sie dachten wohl, ich könnte am besten auf ihn einreden. Als hätte Reden noch etwas bei ihm genützt! Ich wusste, dass es keinen Sinn haben würde. Vielleicht rechnete ich schon mit dem, was dann passierte. Wir spürten ihn gemeinsam auf und stellten ihn, doch er stürzte sich sofort auf Barbara.« Er zog die Luft durch die Nase ein. »Er hätte sie getötet. Er war einer der Großen. Ein Tiger, unglaublich aggressiv. Barbara hätte keine Chance gehabt. Ihr Schatten war ein Nebelparder. Das Seltsame war: Keiner rührte sich! Keiner kam ihr zu Hilfe. Und sie? Sie wehrte sich nicht! Sie stand nur da und blickte ihn an. Und in ihren Augen sah ich nur eines: maßlose Enttäuschung. Ich glaube, erst da habe ich begriffen, dass die beiden sich einmal geliebt hatten.«
    »Dann hast du nur getötet, um Barb zu retten.«
    »Nein. Ich wollte die Gemeinschaft retten. Die Menschen in der Stadt. Leute wie den Läufer, Leute, die ein Recht auf Fehler hatten und ein Recht darauf, aus diesen Fehlern zu lernen und es besser zu machen. Und natürlich wollte ich Rache für diesen Jungen und Rache für die drei anderen von uns. Ja, Rache! Ich war in diesem Augenblick kein bisschen besser als Pablo. Im Grunde kämpfte jeder für seine eigene Besessenheit. Die anderen standen um uns herum und sahen tatenlos zu; nicht einmal Maurice, der es mit ihm hätte aufnehmen können, rührte sich. Nun, mich kostete der Kampf meine Beine. Und Pablo … das Leben.«
    Ich fröstelte und dachte an den Flashback mit Maurice. Wenn Rubio den Tiger besiegt hatte, musste er tatsächlich zu den Großen gehören. Löwe. Ganz bestimmt.
    »Dann ist deine Lähmung nicht die Strafe für den Mord«, stellte ich fest.
    Rubio schüttelte den Kopf und wischte sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er eine unangenehme Erinnerung vertreiben. »Nein. Und auch die Menschen bestraften mich nicht. Eine von uns – Eve – sagte als Zeugin vor Gericht unter Eid für mich aus. Wir seien beide von ihm angegriffen worden und ich hätte in Notwehr gehandelt. ›Arzt bringt Serienkiller zur Strecke‹ – das stand damals in den Zeitungen. Ich schaffte es, anonym zu bleiben, aber da bekannt wurde, in welchem Krankenhaus ich lag, belagerten die Reporter wochenlang die Eingangstür. Sie fanden natürlich auch raus, an welcher Klinik ich arbeitete, und wollten filmen, wie ich einige Monate später zum ersten Mal wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehrte – im Rollstuhl. Tja, da hatten sie Pech. Ich kehrte nicht ins Krankenhaus zurück. Ich hatte geschworen, Leben zu schützen. Wie hätte ich nach dem, was ich getan hatte, noch Arzt sein können?«
    Etwas Gebrochenes lag in seinem Tonfall. Von seiner ganzen einschüchternden Stärke war nichts mehr zu spüren. Nun verstand ich, warum die anderen ihn mieden. Es war beides: Es war Ächtung, aber auch Respekt.
    »Barbara war danach auch nie wieder die Alte«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob sie mir je verziehen hat. Und die anderen … es veränderte sich alles. Einfach alles.«
    Er räusperte sich. »Na gut, jetzt weißt du, was du wissen wolltest. Und kannst aufhören, diese dämlichen Schilder vor meinem Fenster herumzuschwenken.«
    »Halt!«, rief ich. »Barb wollte, dass du wieder jemanden tötest. Wen, Rubio? Was geht in der Stadt vor? Du weißt es doch!«
    »Gar nichts weiß ich«, gab er grob zurück. »Hast du immer noch nicht verstanden? Ich habe mit euch allen nichts mehr zu tun. Ich bin so was wie ein Geächteter, ein Geist – und ich bin froh darüber!« Jetzt erschien wieder das hinterhältige Löwenlächeln auf seinem Gesicht. Sein Blick ging auch heute durch mich hindurch, leicht unscharf gestellt. »Tja, schade, dass du Barbara nicht mehr selbst fragen kannst – sie war die einzige Sehende außer mir.«
    Sehende. Der unscharfe Blick. Seine Aussage, dass er Pablo bei vollem Bewusstsein getötet hatt e … Ich brauchte einige Minuten, um das ganze Ausmaß dieser Botschaft zu begreifen. Die Vorstellung war so ungeheuerlich, dass ich trotz der Waffe bis direkt an den Türspalt trat.
    »Du siehst also tatsächlich!«, flüsterte ich. »Und zwar

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