Schattenauge
meinst, während ich dort war?«
»Seitdem hat ihn jedenfalls keiner mehr gesehen.«
»Was willst du damit sagen? Denkst du, ich war’s? Julian ist hinter ihm hergerannt.«
Gizmo ließ sich durch meinen Ausbruch nicht aus der Ruhe bringen.
»Denk logisch, Mann. Wenn es so ist, wie du vermutest, hat Julian selbst Angst vor dem Killer. Aber wenn Marcus auf der Brücke getötet und ins Wasser geworfen wurde, und du warst es nicht, wer bleibt dann noch übrig?«
Jetzt klappte mir die Kinnlade nach unten. »Du meinst doch nicht etwa Zoë? Das ist nicht dein Ernst!«
Gizmo wandte sich mir zu und sah mir in die Augen. Auch seine Pupillen waren unruhig. »Reg dich nicht gleich auf. Aber überleg mal: Drei von uns jagen sie. Zwei dieser Jäger sind jetzt tot. Kemal wurde beim Cinema umgebracht, wo die Jagd begann. Marcus hat es auf der Brücke erwischt. Ist das nicht seltsam?«
»Blödsinn! Sie hat nichts damit zu tun!«
»Hast du gesehen, dass sie es nicht war?«
»Vergiss es. Ich habe sie von der Brücke geholt, erinnerst du dich? Ich habe sie höchstens zwei Minuten aus den Augen verloren.«
»Wir können verdammt schnell sein.«
»Hör auf!« Erst jetzt merkte ich, dass ich laut wurde. »Gut, dann lass uns logisch denken«, fuhr ich mit mühsamer Beherrschung fort. »Was ist mit Maurice? Und mit Barb? Sie sind mehrere Tage vorher ermordet worden.«
Gizmo startete den Wagen und fuhr los. »Vielleicht warst du es ja doch«, sagte er nach einer Weile nachdenklich. »Ohne es zu wissen.«
Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. »Du hältst mich für einen Mörder?«, schrie ich. »Drehst du jetzt völlig durch? Als wir Maurice gefunden haben, hast du gesagt, ich kann es nicht gewesen sein.«
»Das habe ich nicht gesagt«, korrigierte Gizmo, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich sagte: unwahrscheinlich. Andererseits hattest du einen Blackout in der Nacht, als Barb und Maurice starben. Das passt verdammt gut. Vielleicht hat ja jemand anderes die Leiche weggebracht und auf der Baustelle versteckt.«
»Vielleicht war es Irves?«, brauste ich auf. »Passt ja alles: Er hat kein Alibi, er träumt von der Weltherrschaft und denkt, Julian und die anderen zu töten wäre nicht schlimmer, als streunende Katzen zu erschießen!«
»Hey, kein Grund, gleich sauer zu werden«, sagte Gizmo. »Nur ein Gedankenspiel. Hätte doch sein können. Vielleicht hättest du einem anderen damit einen Gefallen getan, weil du ihm zufällig zuvorgekommen wärst.«
»Du kannst mich echt mal mit deinen Gedankenspielen!«, brüllte ich. »Halt an!«
Die Vollbremsung warf mich gegen den Gurt. Fünf Sekunden später war ich auf der Straße. Ich hörte erst auf zu rennen, als ich vor der Börse ankam. Allein im Feindesland, aber in diesem Augenblick war es mir gleichgültig. Das Schlimme war nicht, dass Gizmo mich tatsächlich verdächtigte. Das Schlimme war, dass ich Angst hatte, er könnte Recht haben. Fieberhaft ging ich jede Minute, an die ich mich erinnern konnte, durch, jeden Schritt, jede Begegnung. Doch ich konnte Gizmos Verdacht weder bestätigen noch widerlegen.
Die Leute strömten um mich herum, keiner rempelte mich an. Ich war wie ein Geist. Und noch nie hatte ich mich so allein gefühlt. Ich betete, dass Rubio dranging, aber das Handy klingelte ins Leere. Nur eine SMS von Gizmo: Vergiss nicht, mir die Fotos zu schicken, Hulk!
Idiot! , dachte ich und steckte genervt das Handy wieder ein. Ein Fensterputzer reinigte die verspiegelte Fassade der Börse. Als er die Tropfenfläche der nassen Scheibe mit dem Abzieher in einen glatten Spiegel verwandelte, sah ich mich selbst, festgefroren zwischen den vorbeieilenden Leuten. Neue Lederjacke aus dem Secondhandladen. Kürzere Haare, sorgfältig rasiert. Keine Schwellungen oder blauen Flecken mehr im Gesicht. Zivilisation , dachte ich. Oder ist es nur perfekte Mimikry? Aber der Mann im Spiegel war keine Bestie, das war einfach nur Gil, wie ihn Ghaezel kannte, der vierzehnjährige Junge, der immer seinen Zeichenstift dabeihatte und auf den Familienfotos aus Prinzip nie lächelte. Und, ein paar Jahre später, der Algerier, der durch das Altstadtviertel zur Schule ging. Der Auswanderer, der in Paris aus dem Flieger stieg und erschlagen war von dem unendlichen Grau der Landebahnen und des Himmels. Ja, ich sah tatsächlich menschlich aus. Hi Gil, dachte ich niedergeschlagen. Lange her!
Es war nicht die Bewegung, die mich aus meinen Gedanken riss. Sondern etwas Regungsloses
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