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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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mitten im Menschenstrom. Im Spiegel der Hausfront sah ich die Frau, etwa zwanzig Meter hinter mir. Eine schmale, zerbrechliche Gestalt, fransiges, blondes Haar und ein verwaschener, fliederfarbener Blazer. Miss Underground! Sie stand an einer Ecke vor einer Litfaßsäule und studierte mit gerunzelter Stirn ein Plakat, das ich nicht sehen konnte. Dann zog sie unter dem Blazer eine Spraydose hervor und sprühte etwas auf das Plakat. Markierungszeichen! Ich drehte mich um und ging im Bogen auf die U-Bahn-Station zu. Ich nutzte ein paar Fußgänger zur Deckung und umrundete die Säule. Aber Miss Underground war auf Zack: Aus dem Augenwinkel hatte sie offenbar meine Bewegungen beobachtet und blickte mich nun an. Sie floh nicht, sie starrte nur zu mir herüber. Ein Fahrradfahrer und einige Passanten nahmen mir für ein paar Sekunden die Sicht. Als ich wieder hinsah, war sie weg. Nur ein fliederfarbenes Aufblitzen zwischen den Gitterstäben der U-Bahn-Treppe zeigte, dass sie sich nicht einfach in Luft aufgelöst hatte.
    Zu meiner Überraschung stand sie noch auf dem Bahnsteig, als ich in den Katakomben ankam. Für einen Augenblick fragte ich mich, ob vielleicht die neutrale Zone »U-Bahn« ebenfalls aufgehoben war, aber das war unwahrscheinlich: Zu viele Überwachungskameras. Zum ersten Mal sah ich Miss Underground länger als ein paar Sekunden. In ihren blonden Strähnen zeigte sich Grau, aber sie war immer noch hübsch, ein von feinen Linien durchzogenes Gesicht. Mit einer goldumrandeten Brille und einer Hochsteckfrisur hätte sie wie eine reiche Erbin gewirkt. Sie musterte mich kühl und so genau, als wollte sie sich jedes Detail meines Gesichts einprägen, während die Leute im Bogen um uns herumströmten, ohne uns zu berühren.
    »Können wir reden?«, rief ich ihr zu.
    Passanten drehten sich nach mir um, aber ich ignorierte sie. Beim Klang meiner Stimme verengten sich Miss Undergrounds Augen. Sie machte eine warnende, abwehrende Geste (»Bis hierhin und nicht weiter!«), drehte sich um und ging einfach.
    »Warte!«, rief ich. Doch sie blieb nicht stehen. Letzte Chance. Ich holte Luft und brüllte: »Eve?«
    Es war, als hätte ich sie mit einem Befehl eingefroren. Sie erstarrte, dann wirbelte sie herum und blickte mich ungläubig an. Eine Bahn fuhr neben uns ein und wir standen beide da, bis das Getöse vorbei war und die Türen sich zischend geöffnet hatten.
    »Rubio hat mir von dir erzählt!«, rief ich ihr dann zu. »Du hast zur Gemeinschaft gehört. Du hast vor Gericht für ihn ausgesagt.« Jetzt klappte ihr der Mund auf, sie wurde blass. Ich musste warten, bis die Gruppe von Leuten sich in die Bahn geschoben hatte und die Türen sich wieder schlossen. »Er und Barb waren eure Seher«, fuhr ich fort. »Barb wusste, wer Maurice und die anderen auf dem Gewissen hat. Und ihr? Kennt ihr eure Schatten? Wer steckt dahinter, Eve? Es muss ein Ende haben.«
    »Verschwinde!«, fauchte sie. Sie hatte eine seltsame Stimme, heiser und angestrengt – wie ein Mensch, der lange geschwiegen hat.
    Die Bahn fuhr wieder an, wurde schneller, übertönte jedes andere Geräusch. Eve huschte so schnell zur Seite, dass ich ihr kaum mit den Augen folgen konnte. Unbemerkt von den Leuten auf dem Bahnsteig sprang sie auf die Hängerkupplung zwischen zwei Waggons. Wow! Aus dem Stand fast drei Meter. Punktlandung. Im nächsten Augenblick war sie bereits im Tunnel und ich konnte der Bahn nur noch staunend hinterherschauen.
    Der scharfe Geruch frischer Farbe brannte in meiner Nase, als ich zur Säule auf dem Börsenplatz trat. Das Plakat – irgendeine Musicalwerbung – war halb zerfleddert und ziemlich verschmiert. Ein Witzbold hatte der singenden Schönheit einen Schnurrbart verpasst. Aber darunter, am rechten Rand, erkannte ich die Zeichen von Julian und der Jongleurin – und daneben vier parallele Kratzer (das Zeichen von Glatze). Neu war Eves pinkfarbene Zahl (4), von der noch die Farbe rann. Sie verdeckte die anderen Zeichen nicht, sondern ergänzte sie. Kurz entschlossen holte ich meinen Stift hervor und kritzelte ein schwungvolles »Gil« daneben.
     

Vibes
    Zoë war es gewohnt, dass ihr Bruder ein wenig fremdelte, wenn er ein paar Tage bei Fabio und Andrea gewesen war. Auch ihr kam es dann vor, als würde Leon plötzlich ein Hauch von fremder Luft umgeben. Aber diesmal war es nicht nur fremde Luft – eher eine komplette Entfremdung. Schon bei der Begrüßung wand sich Leon aus ihren Armen und starrte sie halb verstört, halb

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