Schattenblicke - Thriller
hat?
Andererseits – offenbar ist Goldzahn hier eindeutig der Chef und nicht mein Vater.
Ich krümme mich auf der Liege zusammen. Mir ist eiskalt, obwohl die Luft zum Schneiden stickig geworden ist.
Mein Vater.
Tata.
Tata .
Warum riecht er so anders?
Ich habe keine Ahnung mehr, wer er ist.
Er ist mir nah und fremd zugleich.
Als stünde er hinter einer Milchglasscheibe undich könnte ihn nicht richtig erkennen. Selbst wenn ich ihn sehe.
Und – obwohl er mich umarmt hat, war er irgendwie distanziert.
Oder lag das an mir?
Irgendwann bringt die alte Frau mein Mittagessen. Filip bewacht sie von der Tür aus, und erst als auch sie zum Fenster deutet und auf ihn einredet, erst da bequemt er sich dazu, es zu öffnen. Gierig sauge ich die heiße, aber frische Luft in meine Lungen.
Die alte Frau lächelt mich freundlich an. Dann setzt sie sich zu mir an den Tisch und zieht ihr Strickzeug heraus, nachdem sie die Haube vom Teller gehoben hat.
Beim Geruch der Kartoffeln und der Bohnen daneben wird mir fast übel. Ich schüttele den Kopf und schiebe das Tablett an den Rand des Tisches.
Die alte Frau schiebt es wieder näher zu mir. » Izvolite! Prijatno! «
Aber ich kann nicht. Stattdessen trinke ich einen großen Schluck Wasser. Sie schiebt den Teller noch näher.
» Shopska salata! «, ruft sie und deutet auf den Salat. Gequält nehme ich die Gabel und stochere darin herum. Wenn ich es nicht mache, geht sie bestimmt gleich wieder. Und das will ich nicht. Ich will nicht allein sein. Lieber habe ich diese alte Frau mit ihremStrickzeug zur Gesellschaft, auch wenn ich mich mit ihr kein Stück verständigen kann.
Sie lächelt mich freundlich an und strickt zwei Reihen. Ein neuer Strumpf, in rot gemusterter Wolle. Offenbar hat sie ein ganzes Kinderheim mit Strümpfen zu versorgen. Oder eine Großfamilie. Wenn ja, dann frage ich mich allerdings, wo diese Großfamilie wohl steckt. Und ob die übrigen Familienmitglieder wissen, dass ihre Großmutter gerade mithilft, ein deutsches Mädchen gefangen zu halten.
» Tata? «, fragt sie. » Dobre? « Erwartungsvoll sieht sie mich an, mit fast begeistertem Gesichtsausdruck. » Dobre? «
Was soll ich darauf sagen? Tata ja, aber dobre ? Ich hab keine Ahnung, ob das gut ist.
Ich habe die Nase voll davon, keine Antworten auf meine Fragen zu bekommen.
»Nee, nix dobre !«, sage ich schließlich wütend. »Alles Mist! Ich will nach Hause!« Beim letzten Wort kippt meine Stimme.
Sie sieht mich stumm an, dann streckt sie eine Hand aus und streicht mir über den Arm. Die Berührung ihrer warmen, trockenen und faltigen Hand schnürt mir die Kehle zu. Schnell ziehe ich den Arm weg.
»Ich will nach Hause!«, sage ich rau. Filip sagt etwas, und die alte Frau steht schließlich auf undnimmt das Tablett wieder hoch. Sie wirft mir noch einen mitfühlenden Blick zu, dann schlurft sie hinaus.
Später muss ich eine Weile klopfen, bis Filip mir wieder öffnet. Ich möchte ins Bad, aber er lässt mich nicht. Hartnäckig schüttelt er den Kopf, und das Fenster macht er auch nur kurz noch einmal auf, so lange, wie er im Zimmer steht. Die Luft, die von draußen hereinströmt, ist heiß und schal, und mir wird schwummrig davon.
»Tata?«, frage ich.
Er sieht mich stumm an. Ich weiß nicht, aber zu Anfang war er freundlicher.
Erschöpft lasse ich mich aufs Bett fallen, als er die Tür wieder hinter sich geschlossen hat.
Ich bin sauer und total fertig. Still liege ich da und starre auf den Wasserfleck an der Decke, dann rolle ich mich zum Fußende hinüber, klaube meinen Rucksack auf und hole mein Notizbuch heraus.
Zeit für eine Bestandsaufnahme. Mal sehen:
1. Wo bin ich?
Ich betrachte das, was ich notiert habe, dann streiche ich alles bis auf die ersten beiden Wörter.
In Serbien.
2. Was wollen die Entführer?
Geld.
Mehr Antworten habe ich immer noch nicht. Fünf von sieben Fragen bleiben ungelöst:
3. Welche Rolle spielt der Junge?
4. Weiß die alte Frau Bescheid?
5. Woher haben sie das Foto?
6. Was hat mein Vater mit der Sache zu tun?
7. Was wird mit mir geschehen?
Und ich weiß nicht, warum, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass mir die Zeit davonrennt.
Tata. Mein Vater. Ich weiß nicht, was ich über ihn denken soll.
Ich glaube, ich stehe unter Schock.
Was macht man, wenn man unter Schock steht?
Abwarten?
Wie wartet man ab?
Ich kann nicht mehr. Ich halte es nicht mehr aus.
Ich will raus.
Ich will nach Hause!
Es ist schon fast dunkel draußen, als sich die Tür
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