Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
«Wasser holen, glaube ich.»
Aus dem Wald klingt heiseres Kläffen. Aufgeregt. Ist was passiert? Eine Warnung? «Was ist das?»
«Die Wölfe sind unruhig. Sie haben wohl irgendwo ein Reh entdeckt. Jagdfieber, weißt du?» Sie wippt auf den Fußspitzen. «Ich schick dir Thursen!» Sjöll läuft davon, mit Feenschritten, den Wölfen nach. Sie verschwindet im Wald, als wäre sie ein Teil von ihm.
Kläffen, Heulen. Einen Moment später höre ich vom Wald her Thursens Stimme. «Sjöll hat mir gesagt, dass du da bist», sagt er und tritt aus dem Unterholz.
«Ja.» Ich sehe auf Thursens leere Hände. «Sie sagte, du bist Wasser holen?»
«Wasser? Nein. Wieso?» Er umarmt mich. «Brauchst du welches für die Blumen?»
Ich halte ihn fest und lege meinen Kopf an seine Schulter.«Nein. Nein, ich brauche kein Wasser.» Nichts brauche ich, nur ihn.
Thursen lacht mir leise ins Ohr. «Dann ist es ja gut.» Er küsst mich auf die Wange. Plötzlich hebt er den Kopf. Lauscht. Von weit her glaube ich einen Hetzlaut gehört zu haben.
«Jagen sie?», frage ich.
«Mhm. Nicht so wichtig.» Er setzt sich auf einen Laubberg und klopft neben sich. «Was hast du heute gemacht?»
Ich setzte mich zu ihm und denke daran, was ich Sjöll versprochen habe. Nicht jammern. Nichts Trauriges erzählen. Zum Beispiel nicht erzählen, dass ich gestern Abend eine alte Speicherkarte für meine Kamera mit Fotos von meinem Bruder drauf wiedergefunden habe. Von unserem letzten gemeinsamen Urlaub. Darum erzähle ich: «Ich war in der Schule. Wir hatten Chemie, sollten so ein Experiment machen, aber der Bunsenbrenner ging nicht. Dann haben wir alles im Buch nachgelesen. Total blöd.»
«Mhm. Tut mir leid.» Er steht auf, geht ein paar Schritte, hebt einen herabgefallenen Zweig auf und setzt sich wieder neben mich.
Die Jagdmeute kommt näher. Ich höre ihr heiseres Kläffen, das Brechen durchs Unterholz knistert zu uns herüber. Thursens Augen leuchten.
«Meinst du, sie kriegen das hin, ohne dass du aufpasst?», versuche ich ihn aufzuziehen.
Thursen wendet seinen Blick nicht vom Waldrand, hat mich gar nicht gehört.
«Thursen?»
Er dreht seinen Kopf zu mir, schenkt mir ein kurzes Lächeln. «Erzähl ruhig. Ich höre zu!»
«Ich habe heute Dahlien gekauft, in dem kleinen Blumenladen am Bahnhof. Da hat ein Typ vor mir fünfundzwanzig Rosen gekauft.»
Thursens Finger zerbrechen den dürren Ast in seiner Hand zu winzigen Stücken. Knick, knick, knick. Er ist mit seinen Gedanken weit fort. Als es wieder ganz still ist, wendet er sich mir zu. «Was hast du gesagt?»
«War nicht so wichtig. Willst du lieber rübergehen und nachsehen, ob eure Wölfe nicht abgehauen sind?»
Da kommt Sjöll aus dem Gebüsch zu uns gerannt. Noch ganz außer Atem beugt sie sich über Thursens Schulter. «Jagd vorbei!», flüstert sie ihm ins Ohr, so laut, dass auch ich es hören kann. «Ohne dich.»
Er hält die Nase in die Luft, als könnte er es riechen. «Reh?»
Sie nickt. «Mhm. Willst du sehen?»
Einen Moment lang sieht er zu ihr hoch, zögert. Dann lächelt er mich an. «Nein, lass mal. Ich bleibe hier bei Luisa.»
«Na gut, dann kommst du eben später.» Sie zwinkert mir zu, zieht sich die Blume aus dem Zopf und steckt sie mir ins Haar. «Wir sehen uns!», sagt sie und verschwindet im Unterholz.
«Du musst nicht hierbleiben.»
Ich erwarte, dass Thursen ihr nachsieht, wie ich es tue. Doch stattdessen sieht er mich an. «Doch, muss ich. Da kommst du her, und ich höre dir nicht mal zu.»
Ich male mit einem Stöckchen Kreise auf den Boden. «Das macht doch nichts.»
«Ich hab dich vermisst. Der Wald ist auf einmal ganz schön leer ohne dich.» Thursen rückt näher an mich heran.
Auf einmal! Ich muss lächeln. «Außer deine Wölfe jagen.»
«Ja, gut», er nimmt mir mein Stöckchen aus der Hand und legt meine Hand in seine. «Aber sonst.»
Mir wird ganz warm, so als würde ein Teil seiner Kraft in mich fließen. Ich wünschte, er würde meine Hand für immer halten.
Sein Griff wird fester. «So, jetzt bin ich mir wenigstens sicher, dass du wirklich da bist.»
Ich muss lächeln. Immer wenn er mich irgendwohin gebracht hat, hat er meine Hand gehalten. «Hast du solche Angst, dass ich dir verlorengehe?»
«Eher, dass du nicht wiederkommst.» Er verzieht das Gesicht zu einem schrägen Lächeln, als machte er sich über sich selbst lustig.
Ich versuche, auf seinen leichten Ton einzusteigen. Dass er mich nicht loslässt, macht mich mutig. «Du sagst doch, ich
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