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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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das ist mein Zimmer.» Ich suche in meinem Schrank nach neuem Papier, bis mir einfällt, dass ich es in dieser Wohnung ja im Schreibtisch aufbewahre.
    «Sind die Möbel alle neu?», staunt Lotti.
    «Die alten wollten meine Eltern nicht mitnehmen.» Zu viele Erinnerungen. «Diese haben wir nach dem Umzug gekauft.» Kein Wunder, dass ich nichts finde.
    «Auch das Bett?» Lotti streicht zaghaft über die regenbogenbunte Patchworkdecke, die meine Tante mir genäht hat.
    «Die habe ich drübergelegt, damit es ein bisschen wie mein altes Bett aussieht.» Und ein bisschen mehr wie Zuhause riecht, setze ich in Gedanken hinzu. Fremde Gerüche sind das Schlimmste, wenn man sich einsam fühlt.
    «Hast du kein Heimweh?», fragt sie. Und ehe ich antworten kann, hat sie das Bild über meinem Bett entdeckt. «Wer ist das?»
    Das Bild ist eines von den Urlaubsfotos, die noch auf der Speicherkarte im Fotoapparat waren. Etwas verschwommen ist es, wie von Nebel überlagert, denn ich habe es selbst ausgedruckt, und die Druckerpatrone war fast leer. Aber das Foto ist so persönlich, dass es mir komisch vorgekommen wäre, es aus irgendeinem Druckerautomaten in der Drogerie zu ziehen. Seit ich dieses Bild im schwarz angemalten Rahmen an der Wand hängenhabe, weigern meine Eltern sich erst recht, mein Zimmer zu betreten. Sie ertragen den Anblick nicht, sagen sie. Drehen rasch den Kopf weg, als würden sie sich dafür schämen, dass ich es bin, ihre Tochter, die die Anweisung missachtet, die strikte Anweisung, so zu tun, als sei nichts gewesen. Es war aber etwas, jemand: «Das ist Fabian, mein Bruder.»
    Lottis Blick wandert über seine gewellten Haare, die so blond sind wie meine, die langen Wimpern, die blauen Augen, blau wie die Seen in unserem Schwedenurlaub, und den lachenden Mund. Lotti lächelt auch.
    «Sah nett aus.» Sah, sagt sie. Vergangenheit. Sie weiß also Bescheid. «Mama hat mir gesagt, dass er nicht mehr da ist.»
    «Er ist nicht ‹nicht mehr da›, er ist tot», korrigiere ich.
    Lotti guckt mich an, als hätte ich eins plus eins falsch ausgerechnet. «Dann ist er doch nicht mehr da, oder? Blöd! Sonst hätten wir nämlich bestimmt gut zusammen spielen können. Federball und Ritterburg und so.»
    Klar, alles ganz einfach. Ich nicke. Ihr fehlt er natürlich nur als unbekannter Spielkamerad. Meine Nase brennt und meine Augen. Wo ich die Papiertaschentücher habe, weiß ich immer. Ich nehme eines aus der Schublade neben dem Bett und putze mir die Nase.
    Lotti ist inzwischen auf meinen Schreibtischstuhl geklettert und hat ihr Heft vor sich ausgebreitet. Schriftliche Subtraktion. Lotti schreibt die Aufgaben auf ein sauberes Blatt, und wir beginnen noch einmal von vorne. Aufgabe für Aufgabe suchen wir gemeinsam nach dem Lösungsweg. Es ist gar nicht so schwer, wenn man nicht alles auf einmal versucht. Als ich nach dem Matheheft greife, streife ich kurz ihr Haar. Weich und lockig wie der Pelzeines Kuscheltieres ist es. Meine Hand möchte darüberstreichen, einmal nur, ganz sanft. Bei Fabian habe ich es so oft getan, aber bei ihr traue ich mich nicht.
    Dann jubelt Lotti und klappt ihr Heft zu. Fertig! Fabian lächelt von der Wand herab. Er hat die schriftliche Subtraktion nie gelernt. Sein Leben war zu kurz dafür.
     
    Ich will raus hier. Weg, in den Wald. Zu Thursen. Egal, was Sjöll meint. Alles wird weniger wehtun, wenn er da ist. Thursen ist meine Trutzburg, mein Ruhepol, mein Fluchtpunkt. Ich weiß, er wird mir helfen, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren.
    Ich verabschiede mich von Fabian, der verwischt und verschwommen wie ein Geist an meiner Wand hängt, als wäre er gar nicht mehr ganz bei mir. Er
ist
nicht mehr ganz bei mir, korrigiere ich mich in Gedanken. Er ist überhaupt nicht mehr bei mir.
Er ist weg,
das hat selbst Lotti verstanden.
     
    Diesmal kann ich die Wölfe schon von weitem hören. Jerro jagt kläffend einem Knüppel hinterher, den Norrock zwischen den Stämmen hindurchgeschleudert hat. Fath verfolgt ihn, doch er ist zu langsam. Jerro kommt schon zurück, den Ast zwischen den Zähnen. Legt ihn stolz ein paar Meter von Norrock entfernt auf den Boden.
    Ich lehne mich an den zerklüfteten Stamm einer Esche und sehe ihnen zu.
    «Was denn, nochmal?», ruft Norrock, will die paar Schritte zu dem Spielzeug machen. Da ist Rawuhn auf den Beinen. Eben noch lag er da und verfolgte das Spiel. Mit schnellen Sprüngen ist er beim Stock. Schnappt zu, in der Sekunde, in der Norrock sich bückt, um den Ast

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