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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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dem Schweizer Taschenmesser, das mein Vater besaß. Aber statt rot ist es schwarz.
    Eine fließende Bewegung, und Thursen steht neben mir. «Wie hieß dein Bruder?», fragt er.
    «Fabi.» Ich schlucke. «Fabian.»
    «Komm», er hält mir seine Hand hin, die jetzt ganz ruhig ist, und zieht mich auf die Füße. «Wir suchen einen Baum für deinen Bruder.»
    Langsam, Schritt für Schritt durchwandern wir den Wald. Meine Finger fahren über Eschen, Eichen und Kiefernstämme, zeichnen die rauen Linien ihrer Rinde nach.Thursen schüttelt den Kopf. «Wir brauchen einen glatteren Baum.»
    Ich finde eine junge Buche. Kein Schössling mehr, aber auch noch kein richtiger Baum, so wie mein Bruder es war. Und in die Rinde schneidet Thursen Fabians Namen. Sorgfältig Buchstabe um Buchstabe wie Zauberrunen für einen vermissten Krieger. Es riecht herb nach Buchensaft. Meine Blicke folgen Thursens Faust, die so geschickt und kraftvoll das Messer führt. Mir ist nie aufgefallen, dass er Linkshänder ist. Weiß treten seine Knöchel hervor, als er die Rinde bis zum Stamm durchschneidet. Dann tritt er zurück, und mein Trauerplatz ist fertig.
    «Du brauchst kein Grab. Von jetzt an kannst du hierherkommen, wenn du an ihn denken willst», sagt Thursen und wärmt mich mit seinem Blick. Vor meinen Augen verschwimmt er, denn ich heule schon wieder. Heule an seiner Schulter, bis der Stoff seines Mantels dunkel von Tränen ist. Und er lässt es zu, hält mich. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so dankbar war. Ich wünschte nur, meine Eltern hätten ein einziges Mal das versucht, was Thursen, ohne groß zu fragen, für mich getan hat.
     
    Ich komme wieder, natürlich komme ich. Komme am nächsten Tag und am nächsten und dann die ganze Woche. Bringe Blumen, die ich am Fuße des Baumes auf die Erde lege, und einmal auch ein ewiges Licht. Rot leuchtet es durch die Stämme, als ich mit Thursen in der Senke sitze und rede über dies und das. Mit Thursen rede ich und mit Sjöll, manchmal auch mit Norrock und Karr. Und mit den Wölfen. Stumme Zuhörer sind sie, die uns neugierig umschleichen. Immer da.
    Heute habe ich Dahlien dabei, ein buntes Bündel. Meinerster Weg führt mich wie immer zu Fabians Buche. Ich begrüße den Baum mit dem Namen fast wie einen Freund, als könnte er meinem Bruder Grüße bestellen, dorthin, jenseits von allem, wo ich nicht hinkann. Sjöll kommt zu mir, mit schräg gelegtem Kopf beobachtet sie, wie ich die Blumen vor dem Namensbaum im raschelnden Laub ausbreite.
    «Na, bist du wieder in Trauerarbeit unterwegs?», fragt sie.
    «Hmmm. Jetzt kann ich das ja endlich.» Ich muss mir die Nase putzen, habe zu viel an Fabian gedacht. Manchmal läuft mir, statt zu weinen, die Nase. «Ich glaube du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dankbar ich Thursen für die Idee mit dem Baum bin.»
    «Ja, Thursen ist schon toll.» Sie bricht ab, dreht eine von ihren schwarzen Locken um den Finger. Den Rest ihrer wilden Haare trägt sie heute mit einem Schnürsenkel hochgebunden als Pferdeschwanz.
    «Was ist?»
    «Ich wünschte bloß, du würdest das nicht machen. Blumen hinlegen und schniefen und mit verweinten Augen rumlaufen und Thursen volljammern. Wir wollen vergessen, und du wühlst den ganzen Klumpatsch wieder auf. Das tut uns allen hier nicht gut.»
    «Tut mir leid», sage ich.
    «Weißt du, du bist jemand, der immer wieder den Schorf von Wunden kratzt. Dann entzünden sie sich, statt zu heilen.»
    «Bei mir fängt da noch gar nichts an zu heilen, das ist alles noch viel zu frisch. Thursen kann doch sagen, wenn es ihm genug ist. Immerhin hat er mir den Trauerbaum gemacht, damit ich trauern kann, oder nicht?»
    «Thursen?», sie lacht. «Der würde für dich auch glühende Kohlen schlucken, wenn es dir dann besserginge.»
    «Quatsch!»
    «Ich glaube, du weißt gar nicht, was du ihm bedeutest.» Und ehe ich verlegen werden kann, fährt sie fort. «Es wäre bloß nett, du würdest auch mal an uns andere denken. Wir kriegen das mit dem Jammern doch alles mit.»
    «Sorry», sage ich. Und dann, vielleicht, weil Worte so wenig sind, hebe ich eine von Fabians Blumen auf und stecke sie Sjöll in ihre schwarzen Haare. Eine wortlose Bitte um Vergebung dafür, dass ich ihren mühsamen Frieden störe. Die Blume leuchtet rot in ihrem Haar wie Glut in schwarzer Asche.
    Sjöll lacht. «Ist schon gut. Nur übertreib es nicht.»
    «Ich versuch es. Weißt du, wo Thursen ist?»
    «Irgendwo im Wald.» Sie zögert, dreht an ihrem Silberohrring.

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