Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
locker. «Aber irgendwie kommt er doch drauf. Wieso sagt er so was?»
Thursen lässt sich Zeit. Wirft meine Eichel in hohemBogen davon. Hebt ein paar der welken Blätter auf, dreht sie, als sei die Antwort auf ihnen verzeichnet. Knickt sie, wirft sie in den Herbstwind und lässt sie davonsegeln.
«Thursen?»
«Willst du das wirklich wissen? Also gut: Du hast auch mal da gestanden, wo wir alle gestanden haben.»
Ich wünschte, er würde mich ansehen. «Wo habe ich gestanden?»
«Da, wo es nicht mehr weitergeht. Wo man einfach nur will, dass alles aufhört. Egal wie.» Er zerreißt das nächste Herbstblatt zwischen seinen Fingern, lässt die Stücke zu Boden fallen.
Ich weiß, was er meint. Meine Verzweiflung damals, auf dem Turm, als ich springen wollte, ist immer noch ganz nah. Und auf einmal habe ich wieder den Geruch nach Erdbeersahne und Kerzenwachs in der Nase. Der furchtbare Geburtstag, an dem ich aus meinem Leben springen wollte. Und ich weiß, dass der Schmerz immer noch in meiner Seele lauert, jeden Tag bereit, wieder hervorzubrechen und mich innerlich zu vereisen. Und meine Angst, mein Schmerz und mein Heimweh werden immer das Gesicht meines sterbenden Bruders haben. Wie er dalag, im Krankenhaus, so blass. Und doch haben wir bis zum letzten Tag gehofft, er schafft es irgendwie. Mein Hals zieht sich zu, und meine Augen sind voller Tränen. Ich wusste nicht, dass der Schmerz so nah ist. So mächtig.
Bis zu diesem Moment war ich mir sicher, dass niemand das nachfühlen kann. Keiner. Wem stirbt schon der Bruder? Und jetzt sagt mir Thursen, alle hier sollen auch so etwas erlebt haben? Ich sehe mich um. Sie mustern mich. Werfen mir immer wieder schnelle Blicke zu. Ich suche inihren Gesichtern nach den Zeichen des Schmerzes, den ich so gut kenne.
Und finde nur Neugier.
«Sjöll auch?», frage ich. Mein Blick huscht hinüber zu der Gestalt unter der Esche. Wie ein dunkler Schatten hockt sie dort, nicht mehr allein, im Gespräch mit den beiden anderen.
Thursen nickt. «Ja, Luisa. Sjöll auch.»
«Und …», ich sehe sie reden, lachen. Norrock klopft Karr auf die Schulter. «… Karr und Norrock?»
«Auch.»
«Und – du?»
«Ja, Luisa, wir alle hier.» Sein ausgestreckter Arm scheint alle zu umarmen, deren Zuhause diese laubwarme Senke ist.
Da verstehe ich. Weiß, warum er mich nicht ansieht. Es ist ein Bluff. Er macht sich lustig über mich. Mir wird eiskalt. Fast wäre ich darauf hereingefallen. Fast alles hätte ich Thursen geglaubt. Aber ein Club der Lebensmüden? Verzweifelte, die fröhlich Karten spielen – denn das tun Norrock, Karr und Sjöll da drüben – und danach ihre Wölfe streicheln? «Willst du mich verarschen?», fauche ich. Ich will gehen! Muss weg hier. Weg, bevor er sich noch mehr über meine Trauer lustig macht. Ausgerechnet Thursen! Wütend stehe ich auf, breitbeinig, stampfe meine Sohlen in den Boden. Meine Stimme wird lauter. «Das kannst du deiner Großmutter erzählen! Niemand ist verzweifelt, hockt sich dann hier in den Wald und lebt auf einmal glücklich und zufrieden bis ans Ende seiner Tage!»
Auch Thursen ist jetzt auf den Beinen. Ich ramme ihm meine Hände in die Brust, stoße ihn von mir.
Er macht einen Schritt rückwärts, aber er wehrt sichnicht. «Dann geh!», sagt er. «Geh nach Hause! Es war deine Idee, herzukommen. Ich habe gesagt, du sollst es lassen. Los, hau ab!»
«Darauf kannst du Gift nehmen!» Ich marschiere los. Mein Weg zurück führt an den Kartenspielern vorbei. «Und ihr wollt wissen, wie es einem geht, wenn man sich umbringen will? Ausgerechnet ihr?!», gifte ich von oben auf sie herab.
«Thursen hat recht», wirft Sjöll über ihre Schulter.
Was? Ich bleibe stehen, am Rand der Senke, ganz nah bei der Esche. Das kann doch nicht ihr Ernst sein.
«Thursen hat recht», wiederholt Sjöll, schiebt ihre Karten zusammen, steht auf und stellt sich zu mir. «Du merkst es uns nur nicht an.»
Ich verstehe nicht. «Aber wenn ihr so verzweifelt wart, wieso könnt ihr das auf einmal einfach so wegstecken?»
Sjöll legt den Kopf schräg. «Wir haben nur unseren eigenen Weg gefunden, damit zurechtzukommen.»
«So ist es viel leichter!», sagt Norrock.
Leichter! Ich hätte Gold und Silber dafür gegeben, so einen Weg zu kennen. Hätte meine Seele dem Teufel verschrieben, nur dafür, zurechtzukommen.
«Wie denn?» Meine Stimme klingt hoch und kieksig. Gequetscht, weil all die Verzweiflung auf einmal aus der Kehle will.
«Wir vergessen», sagt
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