Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
soll wegbleiben.»
Er sieht mich unschlüssig an, als suchte er nach etwas in meinem Blick. «Das wäre vernünftig», sagt er leise und nachdenklich, während sein Daumen kleine Kreise auf meinen Handrücken malt. Einen Moment lang habe ich Angst, er könnte einfach aufstehen und gehen, mir einmal mehr sagen, dass ich nicht zurückkommen soll. «Und ich habe trotzdem Angst davor», flüstert er. Die Härte verschwindet aus seinem Ausdruck, wie weggewischt, sein Mund schimmert in weichem Lächeln, und ich kann wieder atmen. Er streckt den Arm aus, legt seine freie Hand an meine Wange. Ich fühle die Rauheit seiner warmen Handfläche, als er sanft mein Gesicht umfasst. Mich festhält, während er sich zu mir beugt, bis sich unsere Stirnen fast berühren. Mein Herz hämmert, als wollte es ihm entgegenspringen. Wir sind unsso nah. Grün und würzig riecht Thursen, wie ein Waldgott. Über meine Haut fließt sein warmer Atem. Seine Lippen streifen meine Wangen. Berühren meine Mundwinkel. Links. Rechts. Und dann endlich drückt er sie mitten auf meinen Mund. Meine Lippen prickeln, brennen von seinen. All meine schweren, dunklen Gedanken werden zu feinem Nebel, den der Wind davonbläst. Ich höre auf zu denken, weiß nur noch eins: Er muss mich nochmal küssen, nochmal und nochmal. Seine sanften, weichen Lippen locken einen wohligen Schauder über meinen Rücken. Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken, schließe die Augen und lasse mich fallen in diesen Kuss.
Tausend Jahre später blinzele ich. Er ist noch da, ganz echt, kein Traum, und sieht mich amüsiert an. Sieht man mir so genau an, dass es mir gefallen hat?
Er stupst mit seiner Nase gegen meine. «Das wollte ich schon lange machen», sagt er.
Ich seufze, lehne meine Stirn gegen seine Brust. «Schon damals, auf dem Turm?»
«Mhm.» Er küsst mich nochmal auf die Wange. «Aber spätestens, als du plötzlich bei uns im Lager aufgetaucht bist und meinen Namen gerufen hast.»
Ausgerechnet da? Überrascht sehe ich ihn an. «Ich dachte, du warst wütend, weil ich euch aufgestöbert habe?»
Er nickt. «Auch.»
Ich lächle. Lasse meine Hand, die an seinem Hals lag, nach vorn über sein Shirt wandern. «Warum wolltest du mich dann küssen?»
Ich bekomme noch einen Kuss. «Vielleicht, weil sonst noch nie jemand so sehr nach mir gesucht hat. Vielleicht auch nur, weil du mir einfach so gut gefallen hast. Du bist ziemlich hübsch, weißt du?»
Thursen streicht durch meine Haare, zupft die Blüte heraus, die Sjöll mir hineingesteckt hat, dreht sie zwischen den Fingern und lächelt mich an. Es muss eine andere Blume sein als die, die ich Sjöll geschenkt habe. Diese Blume ist nicht rot, nachtschwarz ist sie wie Sjölls Haare.
Am nächsten Tag will ich gleich wieder zu den Wölfen, doch kaum bin ich zurück aus der Schule, klingelt es an der Tür. Als ich öffne, steht Lotti da, streckt mir mit rotgeheulter Nase ihr Matheheft entgegen, wortlos. Nach dem ersten Blick auf die Seiten verstehe ich sie. Immer wieder hat sie die Lösungen durchgestrichen, nichts war gelungen. Der letzte Strich war so heftig, dass er eine tiefe Furche in der Seite hinterlassen hat. Jetzt weiß sie nicht weiter. Ich lese die Aufgabe, ihren Lösungsansatz, und dann wird mir klar, wo ihr Problem liegt. Ich wünschte, das Leben wäre so leicht wie eine Matheaufgabe aus der Grundschule.
«Komm rein», sage ich, und sie tut es. Ich gehe voran, den immer noch bilderlos weißen Flur hinunter, zögere kurz, dann betreten wir mein Zimmer. Ausnahmsweise. Eigentlich ist es verbotenes Gebiet, mein Rückzugsort, der letzte, der mir ganz allein gehört. Eigentlich darf hier niemand rein, aber für Mathe braucht man einen Schreibtisch.
«Das ist dein Zimmer?», fragt Lotti. Geht ein paar Schritte, bleibt andächtig, den Kopf in den Nacken gelegt vor meinem Regal aus hellem Holz stehen, wie in einem Museum, in dem man schweigend die Vitrinen betrachtet. Keine Figürchen, keine Kuscheltiere. Ein Bord ist ganz leer. Ich habe nicht mehr viele Bücher. Die Kinderbücher mit den bunten Bildern und auch die fröhlichen Geschichten hatte ich alle an meinen Bruder weitergegeben. Undbeim Umzug sind sie im Müllcontainer geendet, wie alles von Fabian. Jetzt stehen da nur meine Jugendbücher, die Literatur, die wir in der Schule gelesen haben, und ein paar CDs. Ich sollte Staub wischen, in den Lücken dazwischen sieht es ganz grau aus. Wie schnell das geht, mir ist, als seien wir eben erst hier eingezogen.
«Ja,
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