Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Norrock und zuckt die Schultern. Seine Stimme endlos tief. «Nach einer Weile fühlst du dich, als wäre nie was passiert.»
«Einfach so?»
«Nein, nicht einfach so. Und außerdem ist das kein Weg für dich, Luisa!» Thursen legt seinen Arm um meine Taille. Hält mich ein bisschen zu fest, als wollte er mich vorirgendetwas zurückhalten, oder beschützen, ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nur, dass sich sein Arm gut anfühlt. Ich mag jetzt nicht mit ihm streiten.
«Ich will auch eigentlich gar nicht vergessen», murmele ich, mehr zu mir selbst. Fast schäme ich mich jetzt schon. Hatte in den paar Momenten, wo Thursen mir so nahe war, gar nicht mehr an meinen Bruder gedacht. Dabei heißt es doch immer, Tote sind erst ganz tot, wenn man sie vergessen hat. Wenn man an sie denkt, bleiben sie ein Stück weit bei uns.
Thursen nickt. «Willst du reden?», fragt er.
So lange habe ich geschwiegen. Mich hinter Wut und Ärger vor meiner Trauer versteckt, weil ich Angst hatte, dass sie stärker ist als ich. Dass meine Trauer meine Seele ganz verschlingt und nichts von mir übrig lässt als eine tote Hülle. Mit niemand sonst kann ich reden. Aber mit Thursen, glaube ich, kann es gehen. Er wird achtgeben, dass ich mich nicht verliere, so wie er mich gehalten hat auf dem Turm.
Sjölls Stimme ist kaum zu verstehen. «Thursen, warum tust du das?»
Er knurrt. «Lass mich in Ruhe, Sjöll!»
«Wir haben gesagt, keiner redet darüber!», ermahnt sie ihn. «Keiner!» Sie blitzt mich aus schwarzen Augen an wie ein wütendes kleines Tier. Erst mich, dann Thursen.
Thursen sieht ihr ruhig in die Augen. «Ich weiß. Trotzdem. Es ist wichtig für Luisa.»
«Du musst wissen, was du tust.» Sjöll dreht sich um und geht. Ihr Ohrring blinkt schaukelnd im Mondlicht.
Ich schaue immer noch Thursen an. Seine grauen Augen. Wie eine Wolkendecke, die die Sonne verbirgt. Aus dem Augenwinkel sehe ich Norrock, Sjöll und Karr, ihreKarten in der Hand, mit den Wölfen zwischen den Stämmen verschwinden. Es ist, als würden sie vor uns fliehen, als wollten sie sich nicht anstecken. Anstecken, womit? «Wo gehen sie hin?»
«Sie halten so etwas nicht aus.»
Mir wird unbehaglich. Vielleicht hat Sjöll recht, und ich sollte Thursen meinen Kummer nicht aufbürden. Vielleicht wird meine Trauer auch ihn verletzen. «Und du?»
«Ich versuche es.» Er lässt mir keine Zeit zum Überlegen. Setzt sich wieder und wartet kaum, bis ich neben ihn komme. «Erzähl mir. Warum wolltest du damals springen?»
Damals. Für mich war es wie – wann eigentlich? Eben gerade oder letztes Jahr?
«Weißt du, es war mein Geburtstag.»
«Ich dachte, das feiert man?»
«Hab ich ja bisher auch immer. Mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder in Hamburg. Wir hatten da ein Reihenhaus, mit Garten.»
«Heimweh?»
«Ja, auch. Aber das ist es nicht.»
«Was dann?»
Und als ich nicht antworte, fragt er noch einmal, leise. Streicht mit seiner Fingerspitze über meine Wange. «Warum, Luisa?»
«Mein kleiner Bruder hatte Krebs. Er hat so gekämpft!» Ich schlucke, hole Luft und rede weiter. «Im Mai ist er gestorben. Und jetzt ist er einfach nicht mehr da!» Ich fühle die Tränen kochend heiß in mir aufsteigen, im Überlaufen meinen Mund zusammenziehen, ohne dass ich es ändern kann. Thursen zieht mich an sich, ich drücke mein Gesicht an seine Schulter. Er riecht würzig nach Laub und Erde.Und während er mich hält, zittert er fast mehr als ich. Vielleicht ist sein Leid doch nicht so gut verborgen, wie er gesagt hat. «Hast du noch Geschwister?», frage ich, um Atem zu schöpfen, kurz an etwas anderes zu denken, bevor ich fortfahren kann.
«Ich weiß nicht», flüstert er.
«Verstehst du, ich habe nicht einmal einen Platz, an dem ich um ihn trauern könnte! Kein Grab, nichts! Wir sind gleich nach seinem Tod hierher nach Berlin gezogen – und er konnte doch nicht mitkommen.»
Thursen fingert eine Packung Papiertaschentücher aus seiner Manteltasche und hält sie mir hin. Seine Finger beben, und sein Gesicht ist noch blasser als zuvor. Eine Weile sitzt er schweigend daneben, während ich mir, Taschentuch für Taschentuch, die Tränen trockne, die immer wieder neu aufsteigen, als wäre in mir eine heiße Quelle. Versunken lässt er seinen Blick über die Bäume schweifen.
Plötzlich, als hätte er den Wald endlich verstanden, verschwindet seine Hand nochmal. Er zieht ein Messer aus seiner Tasche. Ein Taschenmesser, wie ich es noch nie gesehen habe. Es gleicht genau
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