Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
deine blauen Augen. Sorg dafür, dass sie so bleiben.»
Ich verstehe, was er mir sagen will: Verwandele dich nicht. Bleib Mensch.
Und in meinem Kopf klingt sogar das, was er nicht sagt: Lass mich gehen, wenn ich eines Tages ganz Wolf bin.
Dann stehen wir gemeinsam am Ufer eines Sees. Krumme Lanke? Schlachtensee? Nein, kleiner. Das muss der Pechsee sein, oder der Teufelssee. Ich kenne mich nicht mehr aus. Wer kennt schon Thursens Wege?
Ich mag die stille, spiegelglatte Oberfläche des Sees. Abendnebel sammelt sich auf dem Wasser und kriecht dünn und milchig das Ufer herauf. Ruhe umfängt mich, als könnte der Nebel auch die Wut auf meine Eltern in mir zudecken. Der Nebel, der Wald und Thursen. Hier gehöre ich hin. Auch Thursens graue Augen sind auf das Wasser gerichtet. Wir sehen den Schwimmvögeln zu. Blesshühner, die sich um ein Blatt streiten und es dann doch nicht fressen. Eine Gruppe Stockenten gründelt abwechselnd, den Bürzel in die Luft gestreckt. Ich mache einen Schritt vor und erschrecke einen grünköpfigen Erpel, hastig watschelt er durchs Uferschilf ins Wasser. Ich höre ihn platschen.
Ich wandere hinüber zum Stamm eines umgefallenen Baumes, nah am Wasser. «Erzähl mir was über dich», sage ich, als ich mich setze.
«Was soll ich dir erzählen?», fragt Thursen. Bleibt ein paar Schritte vor mir am Seeufer stehen.
«Irgendwas.»
«Ich weiß doch nichts mehr.»
Ich kann es nicht glauben. «Eltern? Geschwister? Schule?»
Er schüttelt den Kopf.
Vorsichtig frage ich: «Wie alt bist du?»
«Ist das wichtig?» Sein Blick ist auf einen Punkt in der Ferne gerichtet, der ihm ganz allein gehört. Ich werde ihn nie erreichen.
Ob sein Alter wichtig ist, hat er mich gefragt. Nein. Ist es eigentlich nicht. Und doch ist es brennend wichtig, denn es hat mit ihm zu tun. Alles, was mit ihm zu tun hat, ist mir wichtig. «Weißt du denn gar nichts mehr?», bettele ich. «Kein kleines bisschen?»
Langsam kommt sein Blick aus der Ferne zu mir zurück, er dreht seinen Kopf und lächelt mich an. «Doch, etwas habe ich noch.» Endlich kommt er zu mir und setzt sich neben mich auf den Baumstamm. Greift in seinen Mantel und zieht ein altes Foto aus der Innentasche. Es ist ein Schwarz-Weiß-Foto, etwas größer als eine von Sjölls Tarotkarten, ein wenig verknickt. Thursen gibt mir das Bild, damit ich es genauer anschauen kann. Ein Einfamilienhaus, zwei Stockwerke hoch, ragt von rechts ins Bild. Am Straßenrand davor parkt ein Auto, ein heller, altmodischer Opel. Eine Tür ist geöffnet. Direkt vor dem Auto steht ein Karton, groß wie eine Umzugskiste. Von der Gartenpforte her lacht mich ein kleiner Junge an.
«Bist du das?», frage ich.
«Luisa», seufzt Thursen, «woher soll ich das wissen? Ich habe das Foto, also hat es wohl mit mir zu tun. Vielleicht bin ich das wirklich. Aber vielleicht ist es auch nur ein Freund? Ein Verwandter?»
Ich habe eine Idee. «Bist du gar nicht neugierig?»
Er lächelt. Unsicher. «Ein wenig, vielleicht.»
«Wir suchen das Haus! Dann finden wir die Familie, die zu dem Zeitpunkt, wo das geknipst worden ist, darin gewohnt hat. Die müssten dich wohl zumindest kennen,sonst hättest du das Foto ja nicht. Vielleicht finden wir dann heraus, woher du stammst.»
«Und was, wenn die Wahrheit dir gar nicht gefällt? Vielleicht habe ich irgendwas Furchtbares angestellt? Oder mir ist Furchtbares passiert? Weißt du, wie lange Sjöll gebraucht hat, bis sie nachts aufgehört hat zu schreien? Hundertmal haben wir ihr gesagt, dass ihr Stiefvater sie hier bei uns im Wald nicht findet. Erst mit der Zeit wurde sie ruhiger.» Er verzieht sein Gesicht. «Wölfischer.»
Ich untersuche das Foto genauer, auch die Rückseite. Aber da steht nichts, kein Datum, kein Name, nichts. «Dann drehen wir einfach wieder um. Wenn sich die ganze Sache für dich zu schlimm anfühlt, gehen wir wieder.»
Er nickt, nicht wirklich beruhigt. Und dann ziehe ich mein Handy heraus und knipse das Foto sorgfältig ab.
In mir sprießt die Hoffnung, dass Thursen sich, wenn wir das Haus wiederfinden, an irgendein kleines Stück aus seiner Vergangenheit erinnern wird. Dass ich sein Vergessen stoppen kann und er länger Mensch bleibt. Dass es mehr Tage geben wird wie diesen. Glückliche Tage, an denen wir zusammen sind. Die Hoffnung wächst, blüht, wuchert. Überwuchert jeden Zweifel.
Ich habe den ersten Hinweis gefunden. «Das ist hier in Berlin!», jubele ich. «Guck mal, das Autokennzeichen. Das meiste ist von dem
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