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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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etwas ein: «Wieso eigentlich trägst du deinen Ohrring auch, wenn du Wolf bist?»
    Sie fasst sich an ihr Schmuckstück. «Silber.»
    «Seh ich.»
    «Nein, du verstehst nicht. Silber verwandelt sich nicht mit. Kennst du Freikugeln? Diese Gewehrkugeln aus Silber? Es heißt, das wären die einzigen Kugeln, die Werwölfe töten können. Alles andere, auch Kugeln aus Blei und Eisen, würden wie unsere menschliche Kleidung ein Teil unserer Wolfsgestalt.»
    Mit dem letzten Armvoll Laub folge ich Sjöll in die Höhle, die die Wölfe in den letzten Nächten gegraben haben. Ich bücke mich unter die stachligen Brombeerranken und schiebe mich hinein. Kein feuchtes tiefes Loch. Sie ist fast wie ein Nest. Etwas Licht fällt hinein, durch ein filigranes Dach aus Erde, Wurzelgeflecht und einzelnenGraspflanzen. Dick ausgepolstert, ist es beinahe gemütlich. Wir kuscheln uns hinein.
    «Dann seid ihr so was wie unverwundbar?», frage ich.
    «Die alten Legenden behaupten das.» Sjöll umfasst ihre Beine und zieht ihre Knie bis zum Kinn. Ich würde sie gerne besser kennen. Muss mich beeilen, ehe sie Wolf wird für immer. Wie Thursen.
    «Kennst du noch mehr alte Werwolflegenden?», frage ich, um mich von meiner Sehnsucht nach Thursen abzulenken. Ich liege halb versunken in knisternden, goldbraunen Buchenblättern und versuche durch ein wurzeldurchwebtes Loch in der Decke den Himmel auszumachen. Höre ein Flugzeug rauschen, weit oben über uns. Ich kann es nicht sehen.
    «Nee.» Sjöll lässt ihre Knie los und dreht sich zu mir. «Aber ich kann dir die Karten legen, wenn du willst.»
    «Du kannst aus den Karten die Zukunft lesen?»
    «Klar. Tarot.»
    «Und für mich würdest du das tun?»
    Sjöll zuckt die Achseln. «Bei den anderen macht das keinen Spaß. Für eine Zukunft als Wolf gibt das Kartenlegen nicht viel her. Da passiert ja nicht groß was.»
    «Ist das nicht langweilig, so eine Zukunft als Wolf?»
    «Du verstehst auch gar nichts!» Sjöll stöhnt genervt. «Das ist nicht langweilig. Das ist beruhigend. Langweilig ist das nur für den, der die Karten legt.»
    Ein bisschen verstehe ich sie. Wer soll einem Wolf schon das Herz brechen?
    «Pass auf!» Sjöll kniet sich hin, stößt mit dem Kopf an eine herabhängende, faserige, erdverklebte Wurzel. Reißt sie mit einem Ruck aus und ist schon wieder bei ihren Karten. «Einen Teil der Tarotkarten, die kleine Arkana,kennst da ja schon, damit haben wir Mau-Mau gespielt», sagt sie, als sie ihre Hand in die Tasche schiebt. «Aber richtig spannend ist die große Arkana, das sind die Karten mit den Bildern.» Sie zieht ihr Spiel mit Schwung heraus, und ein gefalteter Zettel flattert neben ihr ins Laub. Hell scheint er im Dämmerlicht der Höhle. Erdig und abgewetzt ist er, an den Kanten ganz dünn, als trüge sie ihn schon seit Anbeginn der Zeit bei sich. Wie oft er wohl mit ihr Wolf geworden ist?
    «Wenn du was über Werwolflegenden wissen willst, interessiert dich der Zettel vielleicht noch mehr als deine Zukunft», sagt sie und legt ihn mir lächelnd in die Hand.
    «Für mich?»
    «Ich werde ihn nicht brauchen», sagt sie, als sie beginnt, die bunten Karten vor mir auszubreiten. «Und wem soll ich ihn sonst geben? Thursen? Bald ist er für immer Wolf, und als Wolf kann er nicht mehr lesen. Norrock würde darüber lachen, und Karr ist zu jung.»
    Ich will das Papier vorsichtig auffalten.
    «Nicht hier.» Sie legt ihre blasse, herbstkühle Hand auf meine. «Das macht den anderen Angst.»
    «Die sind doch gar nicht da», sage ich. Trotzdem, weil es ihr so wichtig ist, gehorche ich und stecke den Zettel in die Innentasche meiner Jacke.
    Sjöll lauscht. Lächelt. «Aber gleich.»
    Sie hat recht. Über uns, an der Erdoberfläche, lärmt es, Äste knacken. Karr springt mit einem Satz zu uns in die Höhle, Arme und Beine vorgestreckt, und versucht, Sjöll zu erschrecken. Die ausgelegten Karten fliegen durcheinander wie ein Vogelschwarm. Sjöll lacht, umarmt Karr und verstrubbelt ihm das Haar wie einem kleinen Bruder. Als ich das sehe, muss ich schon wieder schlucken. Wiegerne würde ich nochmal Fabians Haare mit meinen Händen berühren, ich weiß fast nicht mehr, wie sie sich angefühlt haben. Und seine Blumen habe ich ihm auch noch nicht gebracht.
    Und dann ist Thursen da. Nichts anderes ist mehr wichtig, gar nichts, als sein Gesicht vor dem Höhleneingang auftaucht.
    Er ist so leise, ich habe ihn nicht kommen hören. Nach den schnellen, rennenden, stampfenden Tritten von Karrs Schuhen war

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