Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Karton verdeckt, aber da ist ganz klar ein ‹B› vorne.» Ich fühle mich sehr schlau. Will, dass er mich lobt.
Er tut es nicht. «Berlin», stöhnt er, «so nah?»
Ich nehme seine Hand und drücke sie fest. «Ich habe dir etwas versprochen damals, was dir sehr wichtig war und mir Angst gemacht hat. Ich habe dir versprochen, nicht vom Turm zu springen, und ich habe mein Versprechengehalten. Ich lebe noch. Jetzt versprich du mir, mit mir zu suchen.»
Er nickt und küsst mich. Lehnt seine Stirn gegen meine, und ich ahne sein ernstes Gesicht. Ich wünschte, er könnte sich jetzt schon mit mir freuen. Irgendwann wird er wissen, was für ein Geschenk er mit seiner Vergangenheit bekommt. Irgendwann wird er erkennen, wie viel die eigenen Wurzeln wert sind. Bestimmt.
ACHT
Der nächste Morgen wirft mich aus dem Schlaf, lange bevor der Wecker meiner Eltern klingelt. Draußen vor dem Fenster hängt noch die Nacht. Leise beginne ich, mich fertig zu machen. Da geht meine Mutter, ich höre es an den Schritten, gerade ins Bad. Ich lösche mein Licht. Fliehe zurück unter die Bettdecke, bis alles wieder ruhig ist. Statt zu duschen, wie ich es vorhatte, mache ich nur eine Katzenwäsche. Leise, ohne viel Wasserrauschen. Meine Schultasche verstecke ich im Kleiderschrank, damit mein Schwänzen nicht gleich auffällt. Heute brauche ich nur meine Monatskarte. Ich öffne meine Zimmertür. Vom Schlafzimmer her höre ich meinen Vater husten. Dann husche ich im Licht meiner Taschenlampe über den Flur und nehme meine Jacke von der Garderobe. Erst im Treppenhaus traue ich mich, Licht zu machen. Das ganze Haus schläft noch, als ich mich leise davonmache, am ersten Tag meiner Suche nach Thursens Vergangenheit.
Draußen ist es noch nachtkalt. Allein und frierend warte ich, viele Schritte später, auf dem Bahnsteig. So früh amMorgen sind die Züge leer. Ich lasse mich auf die Kunststoffpolster fallen, habe den ganzen Wagen für mich. Fast. Zwei Reihen vor mir, auf der anderen Seite des Ganges, sitzt eine bebrillte Frau im Kostüm. Die Beine übereinandergeschlagen, liest sie in einer Broschüre. Das Ruckeln des Zuges beruhigt, aber das Warntuten vor dem Türenschließen an jeder Haltestelle nervt wie ein ständiger Wecker. Trotzdem schläft ein Obdachloser ganz hinten in der Ecke auf der Bank, den Kopf am Fenster, seine Straßenfegerzeitungen fest an sich gepresst. Wem soll er die auch jetzt verkaufen? Ich steige um. Die Fahrt scheint endlos zu dauern. Mein Gesicht spiegelt sich in der dunklen Fensterscheibe. Mein Menschengesicht. Wie ich wohl als Wolf aussähe? An den Bahnhöfen lassen die Lichter mein Spiegelbild in milchiger Helligkeit zerfließen. Endlich sind wir da, und ich steige aus.
Im Wald angekommen und jenseits der Wege gibt es keine Straßenlaternen mehr. Gut, dass meine Füße den Weg zum Wolfslager fast allein finden, denn meine Augen erkennen im Licht der Taschenlampe kaum den Weg. Nicht mehr als eine kleine, schwache Lichtinsel malt sie ins Morgendunkel. Es raschelt rings um mich im Laub. Noch ist Tierzeit, bis die Sonne aufgeht. Zeit der umherhuschenden Mäuse und der letzten Eulen. Der Wildschweine, die geschäftig grunzend den Boden nach Eicheln absuchen. Die Zeit der kleinen Singvögel, die die anbrechende Dämmerung herbeizwitschern. Der Wald schläft nie ganz. Auch die Wölfe sind wach. Lurnak läuft mir entgegen, umkreist mich auf meinen letzten Metern zum Lager mit gespitzten Ohren, als erwarte er, dass etwas Wichtiges passieren wird. Und die Menschen, Sjöll, Norrock, Thursen und Karr, denen Tag und Nacht nichts mehr bedeuten,sie sind ebenfalls wach. Haben sie die Nacht als Menschen verbracht, oder haben sie sich nur für mich verwandelt, als sie mein Kommen spürten?
Jetzt sitzen sie im Kreis, als würden sie schon ewig plaudern. Krestor liegt ausgestreckt zwischen Thursen und Sjöll, lässt sich von beiden hinter den Ohren kraulen. Thursen lächelt mir zu, steht auf und kommt herüber. Ich leuchte ihm unwillkürlich ins Gesicht. «Hallo, Luisa!», sagt er, blinzelt in den Lichtstrahl und hält sich die Hand vor die Augen. Erschreckt knipse ich meine Taschenlampe aus und stecke sie ein. Es ist nicht ganz dunkel, denn die Werwölfe haben ihr Windlicht, die Kerze im Glas, brennen.
«Keine Schule? Ist heute Samstag oder so?», fragt Sjöll. Ihre Hand in Krestors Fell hört auf zu kreisen. Sie legt ihren Kopf in den Nacken, um zum staubgrauen Himmel aufzusehen, an dem die letzten Sterne verblassen. «Es ist noch
Weitere Kostenlose Bücher