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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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seinen Mund. Male die geschwungene Oberlippe nach und die weiche Unterlippe. Auf einmal öffnet er seine dunkelgrauen Augen, sieht mich an. Er greift nach meiner Hand, hält sie fest und legt sie sich in den Nacken. Schlingt seinen Arm um meine Taille und zieht mich näher zu sich. Sein Blick brennt sich in meinen, seine Finger vergraben sich in meinem Haar. Es presst seinen Mund fast schmerzhaft auf meinen. Ich habe die Augen geschlossen und fühle nur noch ihn überall. Seine Schultern unter meinen klammernden Händen. Seine Arme um mich, sein Atem auf meiner Wange. Rieche und schmecke ihn. Er ist meine ganze Welt. Und ich bin seine. So soll es sein. Wir küssen uns, als sei es das Letzte, was wir tun auf dieser Welt. Berühren, fühlen, schmecken uns, als würden nur noch heute die Vögel singen, die Bäume wachsen, die Sonne scheinen. Als wäre der flammende Meteorit, der die Erde zerschlägt, schon zu uns unterwegs. Wir klammern uns aneinander und wünschen, wir könnten irgendetwas dafür tun, dass wir uns nie mehr trennen müssen. Die Zeit schmilzt, dehnt und zieht sich zu berauschten Sekunden. Dieser Kuss darf nie ein Ende haben.
    Aber er hat es. Natürlich. Der Wald, der sich eben aufzulösen schien, taucht wieder um uns auf. Kläffend und japsend kehren die Jäger zurück. Umspringen einander und wedeln froh mit den Schwänzen. Thursen muss ihnen allen übers Fell streichen, den Rücken klopfen. Jerro und Fath, dem hellen Rawuhn, Krestor und Lurnak. Als Letzter kommt ein mächtiger schwarzer Wolf vom Waldrand her. Trabt lässig und ausdauernd auf uns zu. Verschwindet hinter einem Dorngestrüpp und taucht als Norrock wieder auf. So müssen sie es gemacht haben, damals, bei meinemersten Besuch im Lager. Als die Wölfe nacheinander im Gebüsch verschwanden und dann plötzlich Menschen da waren, wie aus dem Nichts. Sie hatten sich verwandelt.
    Norrock kommt zu uns herüber und klatscht Thursen ab. Klatscht auch mich ab, obwohl ich mich damit etwas ungeschickt anstelle. Ich bin noch zu verwirrt. Zum ersten Mal habe ich bewusst eine Verwandlung erlebt, auch wenn ich sie nicht genau gesehen habe.
    Thursen nimmt meine Hand. «Komm», sagt er leise, und wir gehen fort, lassen die anderen zurück. Die Sonne ist verschwunden, und das letzte Licht des Tages hängt dunstig zwischen den Bäumen.
    «Musste Norrock das jetzt extra machen?», schimpfe ich.
    «Du hast doch gewusst, dass wir uns verwandeln.»
    «Ja. Wissen ist eine Sache. Aber Norrock als Wolf! Der ist echt gruselig!»
    Thursen sieht mich an und lacht leise.
    «Was ist?»
    «Deine Augen. Einmal sind sie kleine klare blaue Seen, und im nächsten Moment sind sie graublau wie Gewitterwolken und schießen Blitze.»
    Was redet er über meine Augen? «Deine Augen sind viel seltsamer. Ganz dunkelgrau. Solche Augen habe ich überhaupt noch nie gesehen.»
    «Natürlich nicht», sagt er leise.
    «Wieso?»
    «Ist ja auch keine normale Augenfarbe. Wir Werwölfe verlieren doch alle unsere Farben. Die Haut, die Haare, selbst die Klamotten. Meine Augen waren wahrscheinlich auch mal irgendwann anders.»
    «Und wie?»
    Er zuckt die Achseln. «Keine Ahnung. Wohl nicht gerade hellblau, wenn sie jetzt so dunkel sind.»
    «Willst du das gar nicht wissen?»
    Er heftet seinen Blick auf den Boden, als käme da auf dem Wildpfad, dem wir folgen, ein besonders unwegsames Stück. Zögert damit die Antwort ein bisschen hinaus. «Nein.»
    «Wieso nicht?»
    Jetzt sieht er mich doch an. «Es wird wohl seinen Grund haben, warum ich hier bin, oder? Ich bin doch nicht hier im Rudel aus lauter Spaß. Weißt du, ich kann mich noch erinnern, wie die anderen drauf waren, als sie zu uns gekommen sind.»
    «Rawuhn?»
    «Liebeskummer. Seine Freundin hatte einen anderen, und er kam nicht drüber weg. Karr war wirklich schlimm.»
    «Was war mit ihm?»
    «Mobbing in der Schule», sagt Thursen und reißt ein Blatt von einem Zweig neben ihm. Zerpflückt es zwischen den Fingern und wirft es Stück für Stück zu Boden, während er weiterspricht. «Die ganze Palette. Auslachen, Sachen verstecken, beschimpfen, Hassgruppen im Internet, Hausaufgaben vernichten, Klassenprügel. Dazu Lehrer, die wegsehen, und Eltern, die sich für ihren Verlierersohn schämen und ihm bloß sagen, er soll sich endlich wehren. Du kannst es dir denken.»
    «Mhm.»
    «Er hatte übrigens rote Haare und grüne Augen.»
    Thursen nimmt eine Haarsträhne von mir und wickelt sie sich um den Finger. Dann lächelt er mich an. «Ich mag

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