Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
von der Leine ab und schleudere es zu Norrock zurück. Soll er sich das Ding doch selbst um seinen breiten Nacken schnallen! Ich treffe ihn nicht, es landet vor seinen Schuhen im Laub. Grinsend kickt er es mit dem Fuß hoch und fängt es auf wie einen Lumpenfußball. Ich nehme mein Halstuch ab und knote es dem Thursen-Wolf um. Werfe mir die Leine über die Schulter. Wozu soll ich ein Halsband brauchen? Wenn der schwarze Werwolf nicht neben mir gehen will, hält ihn so ein Lederriemen gewiss nicht.
Dann machen wir uns auf den Weg. Ich habe aus dem Satelliten-Stadtplan im Internet Straßen herausgesucht mit Häusern wie dem auf Thursens Foto. Ähnlich alt und ähnlich groß. Es sind viele Viertel mit vielen Straßen, die wir ablaufen müssen. Ich will ganz im Westen anfangen, Staaken, Spandau, lese den Stadtplan von Berlin, wie man eine Buchseite liest, von links nach rechts.
Thursen geht vor mir her, leise die Pfoten nacheinander aufsetzend. Bestimmt wäre er doppelt so schnell, wenn er nicht auf mich warten müsste. Manchmal läuft er ein Stück voraus. Und wenn er dann an der nächsten Ecke steht und auf mich wartet, ist sein schwarzes Fell im dämmrigen Wald fast unsichtbar. Wir verlassen den Grunewald im Norden, ganz nah am Olympiastadion. Nehmen den Bus nach Westen, die Heerstraße entlang, und steigen um nach Spandau. Als wir aussteigen, schimmert der Sonnenaufgang gelborange über den Dächern der Stadt. Die Straßen füllen sich mit hektischen Aktentaschenmenschen auf dem Weg zur Arbeit. Schulkinder, eilig, mit dem Rucksack auf dem Rücken. Ich zeige Thursen Spielplätze, Schulen, Sportanlagen. Thursen schnuppert in den Wind, sucht nach der verschwundenen Fährte in seine Vergangenheit und findet sie nicht.
Und dann, wir haben Spandau schon fast verlassen, passiert doch etwas. An einer Schule, einem dieser rotgeklinkerten Kastenbauten aus den sechziger Jahren. Gerade Wände, rechteckige Fenster und ein flaches Dach. Thursen läuft mit gespitzten Ohren am hohen Metallzaun des Schulhofes auf und ab. Es hat gerade zur Pause geklingelt, und die Schüler und Schülerinnen strömen aus den Toren ins Freie. Der Werwolf Thursen schnuppert in den Wind, steht da mit stocksteifen Beinen, ein leises Zittern läuft über sein Fell. Irgendetwas spricht ihn an, da bin ich mir sicher. Das Gebäude? Die Schüler?
Eine Gruppe hat einen Ball, beginnt zu spielen. Sie dribbeln, springen vor dem Basketballkorb herum, rufen sich Anfeuerungsrufe zu. Ein paar stehen an die Hauswand gelehnt und hören über Kopfhörer Musik. Ein Mädchen verfolgt laut schimpfend einen Jungen, derihren Sportbeutel geklaut hat. Der Junge schubst sich seinen Fluchtweg durch eine Gruppe Hiphopper hindurch, rennt, aber sie kriegt ihn doch. Stellt ihn direkt vor uns am Zaun, reißt ihm den Sportbeutel aus den Händen und tritt nach ihm. Er springt lachend zur Seite. War nur Spaß.
«Kommt dir etwas bekannt vor?», wispere ich.
Der Thursen-Wolf sieht zu mir auf.
«Und was?»
Er läuft weiter hin und her, antwortet nicht. Wie auch? Dann läuft er zum Haupteingang. Ein paar ältere Schüler stehen unter dem eckigen Betonvordach, rauchen. Sie drängen sich zur Seite, als Thursen kommt. Wenn sie auch nicht wissen, dass er ein Wolf ist, so macht er ihnen wohl trotzdem Angst.
«Ist das dein Hund?», ruft mir ein Mädchen in blauer Jacke zu. Fuchtelt mit ihrer Zigarette in der Luft herum. «Kannst du den mal hier wegholen?»
«Ja!», antworte ich. Und dann rufe ich: «Thursen! Komm her!» So wie man mit einem Hund eben spricht. Nur kein Misstrauen erwecken. Thursen kommt wirklich.
«Du kannst da nicht rein!», flüstere ich. «Nicht so, als Wolf.»
Er bleibt einen Moment stehen. Scheint zu überlegen. Dann lässt er Schwanz und Ohren hängen und wendet sich ab. Läuft in langsamem Trab die Straße hinunter, vorbei an parkenden Autos, weg von der Schule. Weg von dem Pausenhofzaun. Ich renne hinterher, außer Atem. Knapp vor der nächsten Kreuzung kann ich ihn bei seinem Halstuch packen. «Stopp!», rufe ich. Und dann, leiser: «Wo willst du denn hin? Aufgeben?»
Er lässt sich zu Boden gleiten, sodass ich loslassen muss,legt den Kopf auf die ausgestreckten Pfoten und sieht mich nicht an.
Ich werde langsam sauer. «Könntest du dich wenigstens jetzt verwandeln, damit ich mit dir reden kann? Ich spreche leider nur Menschisch. Nicht Wolf.»
Der Thursen-Wolf bewegt sich nicht.
Wir sind bis zu einer Parkanlage gelaufen, rechts von uns zieht sie sich bis
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