Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
einschließen und dann nachts heimlich aus dem Fenster springen?»
Wir sind im ersten Stock, und Klassenräume sind hoch. Wir sind bestimmt fünf Meter über der Erde. Trotzdem sieht er aus dem Fenster, als ob er das ernsthaft überlegen würde.
«Sie werden uns nicht einschließen, weißt du? Die Lehrer gucken erst mal nach, ob noch jemand hier drin ist. Dabei erwischen sie uns, und dann sitzen wir im Büro des Schulleiters und beantworten ewig Fragen.»
Er stöhnt. «Nein!»
«Komm jetzt. Worauf wartest du? Es ist Unterricht, die Gänge sind leer.»
Er nickt. Dann drückt er entschlossen die Klinke, und er ist es, der als Erster hinausgeht auf den Gang.
Langsam, beherrscht, so unauffällig, dass es schon fast wieder auffällig ist, schlendern wir nebeneinander die Treppe hinunter. Das Schultor fällt hinter uns zu. Mit einem Satz ist Thursen die flachen Treppenstufen unter dem Vordach herunter. Dann rennt er los. Ich bleibe an seiner Seite, auch wenn es mich mehr anstrengt als ihn. Wir rennen, biegen ab in den Park, und er drängt sich in ein dichtes Eibengebüsch, wo er endlich anhält. Ich komme hinterher, hinterher durch die Zweige, bis sie uns beide verdecken. Keuchend vorgebeugt stütze ich mich mit einer Hand an seiner Schulter ab.
Er greift nach meiner Hand. Versucht sie wegzuschieben. «Bitte, Luisa. Ich muss mich verwandeln.»
«Ich weiß», sage ich. Japse immer noch nach Luft.
«Dann geh. Bitte!» Ich sehe, dass er zittert.
«Nein.»
«Du sollst das nicht sehen.» Seine Hände flattern, als er nach mir greift. Er sieht wie ein Junkie aus, der seinen Schuss braucht.
«Warum nicht?»
«Es ist nicht menschlich. Es würde dir Angst machen.»
«Angst habe ich vor dem riesigen, schwarzen Wolf.»
Er fährt sich mit den Fingern durch die Haare. «Das bin doch ich. Das weißt du doch. Wieso kannst du vor mir Angst haben?»
«Ich habe ja nicht immer Angst. Aber wenn du mich so anknurrst, die Zähne zeigst, dann schon.» Ich hole tief Luft. «Verstehst du, mir wäre es lieber, ich würde einmal mit eigenen Augen sehen, dass du es bist, der Wolf, der da neben mir herläuft.»
«Na gut.» Er tupft einen kleinen Kuss auf meine Wange und seufzt. «Dann sieh zu.»
Wir sehen uns in die Augen. Da ist etwas Herausforderndes in seinen Augen, die statt anthrazitgrau plötzlich gelblich flackern. Er hält den Blick, während der tiefdunkle Schatten sich von der Brust herauf über sein Gesicht schiebt und es schwärzlich flirren lässt. Ja, es ist beängstigend. Aber ich sehe nicht weg. Ich sehe in seine gelben Wolfsaugen, als der Schatten zu Fell wird und seine Gesichtskonturen zerlaufen. Als der Wolf vornüberfällt und geschmeidig auf seinen Vorderpfoten landet, sinke ich vor ihm zu Boden und schlinge meine Arme um seinen pelzigen Hals. Er schmiegt sich an meine Wange, legt seinen Wolfskopf auf meine Schulter und brummt leise etwas in mein Ohr. Ja, er ist es immer noch. Jetzt kann ich es fühlen. Der Wolf und Thursen sind eins.
Ich streife ihm das Halstuch über. Wir geben nicht auf. Machen nur eine Pause und suchen weiter. Heute und am nächsten Tag, und am übernächsten. So viele Schulen gibt es hier in Berlin in so vielen Bezirken. Die Liste, die ich mir aus dem Internet ausgedruckt habe, ist seitenlang.
Wir sehen uns alle an, das schwöre ich mir, jede einzelne. Und so betasten wir wieder ein fremdes Gebäude. Rauer Putz. Stehen wieder am Schulhofzaun wie Tierheimbesucher am Katzenkäfig auf der Suche nach ihrer verschwundenen Miezi. Warten, bis die Schüler während der Pausen in den Hof laufen, damit Thursen ihre Gesichter sieht. Thursen riecht die Luft, sucht nach bekannten Gerüchen, versteckt zwischen den Autos auf den Parkplätzen der Lehrer. Nichts ist vertraut. Wieder nicht.
Heute sind wir im Wedding. Ich bin so erschöpft, dass ich heulen könnte. Nicht nur meine Füße brennen, meine Seele ist wund. Der Thursen-Wolf mit meinem Halstuchsieht mich an, zieht mich mit seinen Zähnen hinter einen kleinen roten Toyota und verwandelt sich in seinem Schatten in einen Menschen mit meinem Halstuch in der Hand. Endlich.
«Müde?», fragt er, als ich mich an seine Schulter lehne.
Ich nicke. «Hoffnungslos, oder?»
Er streicht über mein Haar. «Ist das so schlimm?»
«Wir können doch nicht einfach aufgeben!»
«Und wenn da nichts mehr ist in meinem Kopf?»
«Bitte, Thursen! Bitte! Wenn da nichts in deinem Kopf ist, dann hör auf dein Bauchgefühl!»
Er schweigt einen Moment. Denkt noch
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