Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
zur Querstraße. Rasen, Büsche, Bäume und ein paar Blumen in einem Beet.
«Los, Thursen!» Ich packe ihn am Fell und rüttele ihn. Versuche, ihn am Halstuch vorwärtszuzerren. Einen Moment lässt er es geschehen, dann hebt er den Kopf und knurrt, tief und grollend. Als ich immer noch nicht loslasse, zieht er mit einem Ruck seinen Kopf aus dem Halstuch. Sieht mich drohend an und bleckt seine Zähne. Entsetzt haste ich ein paar Schritte zurück, das geknotete Tuch noch in der Hand. Kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass dieses gefährliche Tier wirklich Thursen sein soll. Könnte dieser Wolf mich beißen? Es würde mir nicht viel helfen, wenn er es bereuen würde, sobald er wieder Mensch ist. Erst mal tut es mir weh.
Thursen entsetzt offenbar mehr meine Angst als die Tatsache, dass ich ihn am Fell gezogen habe. Er kommt zu mir und stupst mich mit seiner Nase an. Erst verstehe ich nicht, was er will. Dann packt er meinen Ärmel mit den Zähnen, ganz vorsichtig, und zieht mich durch den Park zu einer Bank. Ich setze mich und lasse zu, dass er hinter einem dunkelgrünen, dichten Busch verschwindet. Will er sich doch verwandeln? Ich drehe das Tuch in meinen Händen, knülle es schnell zusammen und stecke es in die Jackentasche, als Thursen im nächsten Moment tatsächlich auf zwei Beinen hinter dem Busch hervorkommt. Erversichert sich mit hastigen Blicken, dass ihn niemand sieht, und setzt sich zu mir auf die Bank. Beugt sich vornüber und stützt die Ellenbogen auf die Knie.
«Die Schule kommt mir irgendwie bekannt vor», sagt er. «Ich weiß nur einfach nicht, was es ist.»
«Dann lass uns reingehen.»
«Luisa.» Er neigt seinen Kopf, sodass die halblangen Haare sein Gesicht verdecken. «Du hast doch selbst gesagt, ich kann da nicht rein.»
«Als Wolf nicht. Als Mensch schon. Schüler fallen in Schulen im Allgemeinen nicht besonders auf.»
Ich stehe auf und strecke ihm meine Hand hin. Er sieht hoch zu mir und greift zu. Obwohl wir nebeneinanderher gehen, bin diesmal eigentlich ich es, die vorausgeht, und er, der folgt, zaghaft, als befände er sich auf feindlichem Gebiet.
Wir gehen zurück, an den Autos, am Zaun entlang, die Betonstufen hinauf unter das Vordach. Das Zigarettenmädchen ist nicht mehr da, aber die anderen Schüler gucken aufmerksam. Wissen sie, dass wir nicht zu ihnen gehören? Keiner spricht uns an, aber untereinander tauschen sie fragende Blicke. Weichen zur Wand zurück, als wir kommen. Dabei ist Thursen doch diesmal gar nicht gefährlich. Thursen sieht zu Boden und tut so, als bemerke er es nicht. Seine Hand hält meine ein bisschen zu fest. Ich traue mich erst nicht, Thursen loszulassen, aus Angst, er könnte seine Meinung ändern, umdrehen und weglaufen. Dann aber, als wir durch die schwergängige, verglaste Tür das Innere der Schule betreten, entscheide ich, dass es weniger auffällt, wenn wir nur so nebeneinanderher schlendern, als wenn wir verkrampft Händchen halten.
Als Thursen hinter mir zurückbleibt, steuere ich entschlossendie Treppe an. Auf den Stufen sitzen Jungs und spielen Handyspiele. Sie gucken kurz hoch, als wir an ihnen vorbeikommen, nicht lange genug, um den nächsten Spielzug zu verpassen.
Als wir im ersten Stock ankommen, läutet es zur Stunde. Wir hören von unten her das Gemurmel, die Rufe, das Stimmengewirr und das Lachen, als die Schüler und Schülerinnen ins Gebäude strömen. Die Schüler, die in den ersten Stock müssen, hasten in Grüppchen an uns vorbei. Während Thursen die Bilder an den Wänden zwischen den Klassenraumtüren betrachtet, unruhig von einem zum andern geht und vor keinem von ihnen lange genug stehen bleibt, fliehe ich zur Fensterwand hinüber, drücke mich gegen den Heizkörper und beobachte. Hier im Gang, in der gleißend hellen Mischung aus Tageslicht und Neonlicht, fallen die Unterschiede zwischen den anderen Jugendlichen und Thursen in fast lächerlicher Weise ins Auge. Ihre Kleidung sieht neben seiner grotesk bunt aus, ihre Gesichter, als wären sie viel zu stark geschminkt. Aber am größten ist der Unterschied im Gang: Niemand bewegt sich so elegant, so geschmeidig, so raubtierhaft wie Thursen. Neben ihm sehen die anderen Schüler wie grellbunte Roboter aus.
Dann läutet es zum zweiten Mal, und die Schüler verschwinden in ihren Klassenzimmern. Wir schlendern hinüber zu den Räumen auf der anderen Seite der Treppe. Die Gänge sind leer, und wir haben die Schule für uns.
Nein. Irrtum. Eine Lehrerin, die Tasche mit ihren
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